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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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aber noch mehr
interessierte sie im Augenblick das Leben ihrer Tochter,
genauer gesagt: die Ehe ihrer Tochter. Nadine ließ Henri zu oft
allein, und das konnte nicht gut gehen auf die Dauer. Es war
zum Verzweifeln, daß Nadine nicht erkennen wollte, welch
einen Glücksgriff sie mit Henri getan hatte. Wahrscheinlich
mußte man eine so trostlose Ehe führen wie sie selbst, um
einen Mann wie Henri schätzen zu können. Marie konnte sich
durchaus vorstellen, daß er ein wenig langweilig sein mochte,
mit seiner sanften Stimme und dem ausgeglichenen
Temperament; ein Mann, der nicht brüllte oder tobte, raste vor
Eifersucht oder umgetrieben wurde von immer neuen
Leidenschaften. Aber was war denn die Alternative? Ein
Charmeur wie Michel, der an keiner Frau vorübergehen
konnte? Henri war berechenbar und gutherzig. Aber
irgendwann würde auch ihm die Geduld reißen.
    »Manchmal denke ich«, sagte sie vorsichtig, »daß dich
andere Schicksale mehr interessieren als dein eigenes.
Natürlich ist es tragisch, daß euer Freund auf so schlimme
Weise ums Leben kommen mußte, aber letztlich hat das doch
mit deinem Leben nichts zu tun. Dein Leben sind Henri und
das Chez Nadine, und damit solltest du dich intensiver
beschäftigen.«
»Was versuchst du mir zu sagen?«
    Marie seufzte erneut. Sie empfand derlei Gespräche als
außerordentlich schwierig.
»Du weißt, wie einsam ich bin. Und wie sehr ich mich über
deine Gesellschaft freue. Aber es ist nicht richtig, daß du Henri
so oft sich selber überläßt. Gestern abend war er allein, heute
früh ist er allein. Er liebt dich, und er ist dir sehr ... ergeben.
Aber selbst Liebe und Ergebenheit halten nicht alles aus.
Nadine«, sie griff über den Tisch und streichelte kurz über die
Hände ihrer Tochter, »es wird Zeit, daß du dich auf den
Rückweg machst.«
Nadine zog ihre Hände zurück, verbarg sie unter der
Tischplatte, als habe sie Angst vor einem weiteren Übergriff
ihrer Mutter.
»Es gibt keinen Rückweg«, sagte sie.
Marie starrte sie an. »Was heißt das? Wie meinst du das?«
»Wie ich es sage. Was ist daran unklar?«
»Es gibt keinen Rückweg? Du willst nicht zu Henri zurück?«
»Nein.« Noch immer hielt sie ihre Hände unter der
Tischplatte versteckt. »Ich will nicht zurück. Unsere Ehe ist am
Ende, und das schon seit langem. Es hat keinen Sinn, wenn du
mir einzureden versuchst, er sei ein phantastischer Mann, und
ich solle mich zusammenreißen und was-weiß-ich-noch-alles.
Es ist aus. Ich will nicht mehr.«
Marie war völlig vor den Kopf gestoßen und sagte eine
Weile gar nichts. Endlich meinte sie mit leiser Stimme: »Du
hast so etwas öfter angedeutet. Aber ich dachte immer ...«
»Was dachtest du?«
»Ich dachte, das sei eine vorübergehende Mißstimmung. In
jeder Ehe gibt es Krisen. Aber deswegen wirft man nicht gleich
alles hin. Man steht es durch, und irgendwann ändern sich die
Zeiten auch wieder.«
»Es geht bei uns nicht um eine Krise oder Mißstimmung.
Meine Gefühle für Henri sind seit Jahren tot. Sie werden nicht
wieder erwachen, so wenig, wie überhaupt je etwas Totes
wieder lebendig geworden ist. Alles, was ich jetzt fortführen
würde, wäre nur Quälerei. Für mich und letztlich auch für ihn.«
Marie nickte, überwältigt von der Entschlossenheit in der
Stimme ihrer Tochter. »Was willst du tun?« fragte sie.
»Ich muß sehen«, sagte Nadine, »daß ich auf eigenen Füßen
stehe. Ich habe kein Geld, keinen Beruf, kein eigenes Dach
über dem Kopf.« Ihre Stimme schwankte einen Moment, die
Hoffnungslosigkeit ihrer Lage senkte sich über sie wie eine
Decke, die sie zu ersticken drohte. Dann riß sie sich
zusammen. »Ich werde einen Weg finden. Bis dahin ... Ich
wollte dich fragen, ob ich vorübergehend wieder bei dir
wohnen könnte?«
Es war Marie anzusehen, daß sie geschockt war vom
dramatischen Ablauf der Geschehnisse, aber es gelang ihr, die
Fassung zu wahren – was ihr noch selten im Leben geglückt
war.
»Aber selbstverständlich«, sagte sie, »dies hier ist
ebensosehr dein Zuhause wie meines. Du kannst hier wohnen,
solange du möchtest. Und wenn es für immer ist.«
Dieser letzte Satz ließ Nadines Selbstbeherrschung
zusammenbrechen. Sie war entschlossen gewesen, nicht zu
weinen, die Kapitulation, das Scheitern all ihrer Pläne und
Träume würdevoll zu überstehen, aber die Leichtigkeit, mit der
ihre Mutter ein für immer als Möglichkeit einkalkulierte, nahm
ihr den letzten Rest

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