Die Taeuschung
jederzeit
beschreiben können. Er konnte nie vorgehabt haben, ihr
Freiheit und Leben zu schenken.
Sie wußte, daß sie nicht in Panik geraten durfte.
Eigenartigerweise war es vor allem das Gefühl der
Zeitlosigkeit, was ihr immer wieder die Luft abschnürte und sie
an den Rand einer Hysterie trieb. Der Moment, in dem sie
durchdrehen würde, stand immer wieder dicht bevor, und
jedesmal, wenn sie mühsam gegen ihn ankämpfte, dachte sie,
daß alles leichter wäre, wenn sie nur die Uhrzeit wüßte.
Sie trug eine Armbanduhr, aber die hatte kein
Leuchtzifferblatt, und so konnte sie nicht das geringste sehen.
Immer wieder überlegte sie, das Uhrenglas einzudrücken, um
die Stellung der Zeiger ertasten zu können, aber sie hatte
Angst, die Uhr dabei kaputtzumachen und hinterher gar nichts
mehr zu haben. So vernahm sie, wenn sie ihr Handgelenk ans
Ohr legte, zumindest noch das tröstliche Ticken, das ihr das
Gefühl einer letzten Verbindung mit der Welt gab.
Hin und wieder versuchte sie auch Geräusche aus dem Haus
zu erlauschen, aber da war nichts. Keine Tür, die in den
Scharnieren quietschte, keine Telefonklingel, nicht einmal das
Rauschen einer Toilettenspülung. Es hätte ein völlig
verlassenes Haus sein können, in das er sie gebracht hatte, aber
sie hatte beim Verlassen des Kofferraumes gesehen, daß sie
sich inmitten eines Dorfes oder einer kleinen Stadt befanden,
und der Eingangsbereich des Hauses selbst, der enge Flur, den
man als erstes betrat, wirkte vollständig eingerichtet und
bewohnt.
Er lebte in diesem Haus.
Aber sie befand sich im entlegensten Winkel des Kellers, in
einem hermetisch abgeschlossenen Raum, und so konnte sie
nichts mitbekommen von dem, was über ihr geschah.
Sie stand an die Wand gelehnt, beide Arme um ihren vor
Kälte zitternden Körper geschlungen, und wartete. Wartete auf
etwas, wovon sie nicht wußte, was es sein würde, was aber in
irgendeiner Weise lebensentscheidend sein mußte. Sie wartete
auf ihn, auf eine Information darüber, wie seine nächsten
Schritte aussehen würden. Sie wartete auf irgend etwas, das die
Schwärze, die Leere, die Zeitlosigkeit um sie herum
durchbrechen würde. Vielleicht wartete sie auch nur auf einen
Schluck Wasser.
Wenn er sie nicht sterben lassen wollte, mußte er ihr bald,
sehr bald, etwas Wasser bringen.
5
Christopher hatte erwartet, daß ihn die Polizei aufsuchen
würde; er war sogar erstaunt gewesen, daß nicht viel eher
Ermittlungsbeamte bei ihm erschienen waren. Natürlich
machte ihn, während er Bertin und Duchemin in seinem
Wohnzimmer gegenübersaß, der Gedanke an die Frau im
Keller nervös, doch schien bei den Polizisten nicht die
geringste Absicht zu bestehen, sich in seinem Haus näher
umzusehen. Er wußte, daß sie sich nicht bemerkbar machen
konnte. Der uralte Keller würde nie ein Geheimnis preisgeben.
Bertin sagte, er habe mit Madame Simon und Monsieur Joly
gesprochen, und in beiden Gesprächen sei eine Aussage ihn,
Monsieur Heymann, betreffend gemacht worden, die ihn habe
stutzig werden lassen.
»Peter Simon war, wie jedes Jahr im Oktober, mit Ihnen zum
Segeln verabredet«, sagte Bertin, »aber er ist bei Ihnen nicht
aufgetaucht. Seine Frau berichtete, sie habe am Sonntag, dem
7. Oktober, morgens bei Ihnen angerufen und erfahren, daß ihr
Mann zu der Verabredung nicht erschienen sei. Ist das so
richtig?«
»Ja«, sagte Christopher. Er hatte geahnt, daß Laura den
Beamten nichts über Nadine Joly sagen würde, und er hatte
eine Frage dieser Art erwartet.
»Hatten Sie vereinbart, sich am Samstagabend noch zu
treffen, oder erst Sonntag früh? Ich frage deshalb, weil es mich
wundert, daß nicht Sie bei Madame Simon angerufen haben.
Madame berichtete, daß sie gegen«, Bertin warf einen Blick in
seine Aufzeichnungen, »gegen halb elf bei Ihnen anrief. Bis
dahin hätten Sie Ihren Freund doch schon vermissen und
Nachforschungen anstellen müssen?«
Christopher rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er hoffte,
daß er Verlegenheit und Unschlüssigkeit gut darstellte.
»Nun ja ...«, sagte er vage.
Bertin sah ihn scharf an. »Was heißt das? Haben Sie ihn
bereits vermißt, als Madame Simon bei Ihnen anrief?«
Christopher gab sich einen Ruck. Er sah dem Beamten in die
Augen. »Nein. Ich habe ihn nicht vermißt. Denn ich glaubte zu
wissen, wo er war.«
Bertin und Duchemin neigten sich näher an ihn heran. Beide
waren jetzt voll gespannter Aufmerksamkeit.
»Sie glaubten zu wissen, wo er
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