Die Taeuschung
aber noch bestürzender war: Sie
hatte die Schreibtischschubladen geleert, hatte Tagebücher,
Photos, Briefe und Notizen mitgenommen. Er wußte von
Cathérine, daß diese Dinge in den Schubladen gewesen waren,
sie hatte ihm davon erzählt, nachdem sie den verhängnisvollen
Brief gefunden hatte. Widerwillig und beschämt hatte er die
Ergebnisse ihrer Spionagetätigkeit zur Kenntnis genommen
und sie in den hinteren Winkeln seines Gedächtnisses
vergraben, aber nun erinnerte er sich blitzartig wieder daran
und er wußte, daß die komplett geleerten Schubladen an
Aussagekraft nicht zu überbieten waren. Sie hatte nicht vor,
zurückzukehren. Höchstens, um den letzten Koffer abzuholen
und die paar wenigen Dinge, die noch in ihren Schränken lagen
oder hingen und für die sie wahrscheinlich keinen Platz in
Koffer oder Tasche mehr gefunden hatte.
Er ging in die Küche. In der Spüle befand sich ein unter
Wasser gesetzter Unterteller, in dem zwei Zigarettenkippen
schwammen. Daneben stand eine leere Kaffeetasse. Sie hatte
sich also einen Kaffee gemacht und zwei Zigaretten geraucht.
Sie hatte auf ihn gewartet. Sie hatte mit ihm reden wollen, und
er wußte, was sie vorgehabt hatte, ihm zu sagen.
Er setzte sich an den Tisch und aß ein Baguette mit Honig,
ohne Trost darin zu finden. Er starrte zum Fenster hinaus,
stellte sich vor, wie sie vor einigen Stunden an vermutlich
ebendieser Stelle gesessen und durch dasselbe Fenster
hinausgesehen hatte. Hatte sie eine Art von bewußtem
Abschied genommen? Oder einfach nur voller Widerwillen
dem Moment entgegengefiebert, da sie endlich für immer
dieses Haus würde verlassen können?
Keine gemeinsame Zukunft. Kein gemeinsames Baby.
Catherine weit weg, und auch Nadine würde fortgehen. Ihm
blieb das Chez Nadine, dessen Name ihm dann nur noch absurd
vorkäme. Ob er es Chez Henri nennen sollte? Das wäre sicher
passend, denn außer ihm wäre ja keiner mehr da.
Er war allein.
In der Euphorie nach dem Gespräch mit Cathérine und nach
der zweiten Begegnung mit den Beamten, die ihm
unverhohlenes Mißtrauen entgegenbrachten, hatte er seine
Kräfte verbraucht. Nach der Begegnung mit Marie Isnard am
Morgen war er stundenlang in der Gegend herumgekurvt, über
lange Strecken gerast wie der Teufel, so wie man es von ihm
kannte, als er noch selbstbewußt und stark gewesen war, dann
wieder langsam gefahren, um wieder und wieder die
Aussprache mit Nadine zu proben, in glühenden Worten ihrer
beider gemeinsame Zukunft zu entwerfen und ihr in schönen,
gewählten Sätzen die Affäre mit Peter S. – denn so nannte er
ihn für sich, seitdem das alles passiert war – zu verzeihen.
Jetzt fiel sein Luftschloß in sich zusammen, und auf einmal
war da nur noch lähmende Müdigkeit, eine tiefe seelische
Erschöpfung und die Angst vor einer leeren und trostlosen
Zukunft. Er, der Sunnyboy, war noch nie derart heftig von der
Sehnsucht nach Nähe überwältigt worden. Er wollte in die
Arme genommen werden, er wollte weinen dürfen, und jemand
sollte ihm über die Haare streichen und ihm tröstliche Worte
ins Ohr flüstern.
Er sehnte sich nach seiner Mutter.
Er dachte, daß er sich dafür schämen müßte, aber ihm fehlte
die Energie. Er mochte sich nicht mit der Frage
auseinandersetzen, ob er eine solche Sehnsucht haben durfte
oder nicht, ob das eine Schmach war oder eine Niederlage. Er
wollte nichts anderes als die Erfüllung.
Er fragte sich, ob seine Kraft reichen würde, die Koffer zu
packen und sich auf den Weg nach Neapel zu machen. Der
Kommissar hatte ihm untersagt, die Gegend zu verlassen, und
durch sein Verschwinden würde er sicherlich den Verdacht, der
ohnehin gegen ihn bestand, noch erhärten, aber das war ihm
gleichgültig. Es ging ihm nur um Nadine. Vielleicht konnte er
ihr einen Brief hinterlassen. Er würde ihr darin erklären, daß er
begriffen und akzeptiert hatte. Sie sollte nicht das Gefühl
haben, sich vor ihm verstecken zu müssen.
Er blickte zum Fenster hinaus, bis es dunkel wurde, dann
schaltete er das Licht ein und betrachtete in der Scheibe das
Spiegelbild des einsamen Mannes am Küchentisch, der nach
Neapel zu seiner Mutter fahren würde, um mit dem
Zusammenbruch seines Lebens fertigzuwerden.
12
Kurz bevor sie zu Bett gehen wollte, fiel Laura ein, daß sie
bereits am Vorabend bei Monique Lafond hatte anrufen
wollen. Durch Christophers Besuch und die dann folgenden
Ereignisse hatte sie dies völlig vergessen, obwohl sie sich
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