Die Taeuschung
hatte. Darin würde er vermutlich die Gläser und Konserven
davontragen, und sie würde hier unten elend und langsam und
unbemerkt krepieren.
»Bitte«, sagte sie. Ihre Stimme gehorchte ihr nun wieder,
klang aber dünn und zutiefst verängstigt. »Bitte, lassen Sie
mich frei. Ich ... ich habe Ihnen doch nichts getan ...«
Sie wußte, daß es kindisch war, was sie sagte, aber sie hatte
nicht die Kraft, anders zu wimmern und zu betteln als ein Kind,
denn genauso klein und hilflos und ausgeliefert fühlte sie sich.
Er schien sich ihr Argument tatsächlich einen Moment lang
durch den Kopf gehen zu lassen, traf dann aber doch eine klare
Absage.
»Nein. Denn du würdest mir jetzt alles kaputtmachen.«
»Aber ich verspreche Ihnen ...«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. Dann stellte er
ihr eine Frage, die sie überraschte.
»Bist du verheiratet?«
Kurz überlegte sie, ob von der Beantwortung dieser Frage
irgend etwas für sie abhängen könnte, ihr Leben
beispielsweise, aber da sie sich keinerlei Zusammenhang
erklären konnte, hielt sie es für ratsam, bei der Wahrheit zu
bleiben – die er vielleicht ohnehin kannte, und womöglich
prüfte er nur, ob sie lügen würde.
»Nein«, sagte sie also.
»Warum nicht?«
»Ich ... nun, es hat sich nie ergeben ...«
»Gab es je einen Mann, der dich heiraten wollte? Der mit dir eine Familie gründen wollte?« Das Wort Familie betonte er auf
eine eigenartige Weise, so als spreche er über etwas ganz
Besonderes, etwas fast Heiliges.
Ich hätte sagen sollen, daß ich Familie habe, dachte sie
instinktiv, ich wäre in seiner Achtung gestiegen.
»Nein«, sagte sie, »einen solchen Mann gab es nie. Dabei
wünsche ich mir nichts sehnlicher als Kinder ... als ein
Familienleben ...«
Er sah sie verächtlich an. »Wenn du dich wirklich danach
sehntest, hättest du es dir längst aufgebaut. Du gehörst
vermutlich zu den Frauen, die ihre Freiheit jeder Art von
Bindung vorziehen. Die meinen, ihr Leben bestehe aus solch
idiotischen Dingen wie Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit. Es sind diese gottverdammten ScheißEmanzen, die die Familie in Mißkredit gebracht und alles
zerstört haben!«
Rede mit ihm, dachte sie. Irgendwo hatte sie einmal gelesen,
daß es Entführern schwerer fällt, ihre Opfer zu töten, wenn sie
mit ihnen sprechen und sie dabei näher kennenlernen.
»Was alles haben sie zerstört?« fragte sie.
Sein Blick war jetzt voller Haß, und sie hatte die
Befürchtung, daß er bei diesem Thema irgendwann die
Kontrolle über sich verlieren würde. Andererseits würde er im
Moment kaum davon ablassen.
»Alles«, sagte er auf ihre Frage hin, »alles, wovon ich je
geträumt habe. Was ich je für mein Leben haben wollte.«
Erstaunt beobachtete sie, wie der Haß einer fast anrührenden
Verletztheit wich. Dieser Mann war tief verwundet worden und
vermochte nicht damit fertigzuwerden, das begriff sie in
diesem Moment. Auf irgendeine Weise war auch er ein Opfer,
das sich mit dem gleichen Selbsterhaltungstrieb gegen die
Grausamkeiten des Lebens wehrte, wie jede Kreatur es tat.
»Wovon haben Sie geträumt?« fragte sie. Mach dich zu
seiner Verbündeten. Zeig ihm, daß du ihn verstehst. Daß du so
bist wie er.
Statt zu antworten, stellte er seinerseits eine Frage. »Wie war
die Familie, in der du aufgewachsen bist?«
Sie tappte im dunkeln, worauf er eigentlich hinauswollte,
aber wenigstens hatte sie zu diesem Thema Gutes zu berichten.
»Es war eine schöne Familie«, sagte sie mit Wärme und
merkte, wie ihr bei der Erinnerung an ihre geborgene Kindheit
Tränen in die Augen stiegen, »meine Eltern haben einander
sehr geliebt, und mich haben sie geradezu vergöttert. Sie
mußten sehr lang auf mich warten, sie waren schon
vergleichsweise alt, als ich auf die Welt kam. Deshalb habe ich
sie auch leider früh verloren. Mein Vater starb vor acht Jahren,
meine Mutter vor fünf.«
Er sah sie verächtlich an. »Früh nennst du das? Früh?«
»Nun, ich denke ...«
»Weißt du, wann ich meine Mutter verloren habe? Als ich
sieben war. Und kurz darauf meinen Vater.«
In ihrer Situation waren ihr die traumatischen Erlebnisse
seiner Kindheit scheißegal, aber sie nahm alle Anstrengung
zusammen, gab sich mitfühlend und interessiert.
»Woran sind sie gestorben?«
»Gestorben? Vielleicht kann man das, was mit meinem
Vater passierte, sterben nennen. Meine Mutter haute einfach
ab. Eine Freundin, eine verdammt gewissenlose Freundin, hatte
sie auf die Idee
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