Die Taeuschung
Es hat sich nichts geändert! Du hattest ganz
recht mit deinem unguten Gefühl. Der Typ ist nicht ganz dicht!
Sie versuchte, ihm ruhig und sehr bestimmt zu antworten.
»Christopher, es ist nach elf Uhr. Ich habe geschlafen. Ich habe
versucht, das Läuten zu ignorieren, aber du hast mir keine
Chance gelassen. Ich finde es, ganz ehrlich gesagt, ziemlich
unmöglich, wie du dich verhältst.«
»Laura, ich möchte dich sehen,«
»Nein. Es ist spät. Ich bin müde.«
»Morgen früh?« Er war jetzt ganz anders als bei dem letzten
Gespräch, nicht laut, nicht drohend. Er klang verzweifelt.
»Ich weiß nicht, ich ...«
»Bitte, Laura! Ich wollte dich den ganzen Tag über anrufen.
Ich sterbe fast vor Sehnsucht nach dir. Ich dachte, du fühlst
dich vielleicht belästigt, deshalb habe ich gewartet... es war die
Hölle ... und jetzt habe ich es nicht mehr ausgehalten. Bitte ...«
Verdammt, die Sache entgleitet dir! Er ist ja wie besessen.
Wie gut, daß du übermorgen abreist.
Bei allem Ärger tat er ihr jedoch auch leid. Sie stellte sich
vor, wie er stundenlang um das Telefon herumgeschlichen sein
mußte, wie er sich beherrscht hatte, wie er sich gequält hatte.
Sie wußte, wie sich eine solche Besessenheit anfühlte.
Sie versuchte, nett zu ihm zu sein.
»Morgen früh geht es nicht. Da habe ich einiges zu
erledigen.« Sie verschwieg den geplanten Makler-Besuch; eine
innere Stimme riet ihr, nichts zu erwähnen von ihrer Absicht,
alle Brücken in diesem Land hinter sich abzubrechen. »Wir
könnten zusammen zu Mittag essen.«
Seine Erleichterung war durch das Telefon spürbar.
»Ja. Ich muß dich einfach sehen. Soll ich dich abholen?«
»Nein. Ich bin in der Stadt... Wir treffen uns um halb eins
auf dem Strandparkplatz in La Madrague. Einverstanden?
Dann überlegen wir, wohin wir gehen. Bis morgen!«
»Ich liebe dich, Laura.«
Sie legte den Hörer auf. Sie stand vor dem Telefon und
merkte, daß ihr Körper schweißnaß war.
Die Furcht, die sie bereits verdrängt zu haben geglaubt hatte,
war deutlicher denn je spürbar.
Er war nicht normal.
Und morgen mittag mußte sie ihm sagen, daß es keine
Zukunft für sie beide gab.
Mittwoch, 17. Oktober
1
Es regnete an diesem Morgen.
Die Wolken waren über Nacht aufgezogen und hatten dem
klaren, fast spätsommerlichen Wetter ein Ende bereitet. Der
Regen war nicht strömend und kräftig, sondern fein und
sprühend. Die Welt, die noch am Vortag in herbstlichen Farben
geleuchtet hatte, versank in eintönigem Grau. Die Feuchtigkeit
schien in jeden Winkel zu kriechen.
Nadine war sehr früh aufgestanden, hatte sich so leise sie
konnte gewaschen und angezogen und hatte sich einen Kaffee
gekocht. Trotz des Feuers im Kachelofen, das die Nacht über
gebrannt hatte und von Nadine nun wieder neu geschürt
worden war, herrschte klamme Kälte im Haus. So war es
immer gewesen. Nadine konnte sich nicht erinnern, daß es im
Herbst und Winter je gemütlich und warm hier gewesen war.
Sie stand ans Fenster gelehnt, die Hände um die heiße
Kaffeetasse geklammert, sah zu, wie die Dunkelheit in
Dämmerung überging, und dachte daran, daß es da draußen,
jenseits der Schlucht, trotz des häßlichen Wetters irgendwann
Tag sein würde, während die Dämmerung hier verharrte und
am späteren Nachmittag wieder von der Dunkelheit abgelöst
würde.
Peter hatte von dem schönen Haus gesprochen, das sie in
Argentinien haben würden, groß und hell und licht, von
Weiden und Wiesen umgeben.
»Mit einer Holzveranda entlang der ganzen Vorderseite«,
hatte er gesagt, »auf der wir an Sommerabenden Hand in Hand
sitzen und über unser Land blicken.«
Da sie sein finanzielles Desaster kannte, hatte sie nie recht
an das Haus und das Land geglaubt, denn wie sollten seine
letzten zweihunderttausend Mark für solch hochfliegende Pläne
reichen, aber sie hatte ihm gern zugehört, wenn er davon
redete. Es war ein schöner Traum, und den sollte er behalten.
Sie selbst hatte – für sich im stillen – an eine Wohnung
gedacht, irgendwo in Buenos Aires, eine kleine, sonnige
Wohnung mit drei Zimmern und einem Balkon nach Süden.
Sie hätte Spanisch gelernt und sich bunte Kleider gekauft, und
abends hätten sie zusammen Rotwein getrunken.
Verdammt, dachte sie, und schon wieder schossen ihr die
Tränen in die Augen. Sie hob den Blick, damit sie ihr nicht
über die Wangen liefen und Streifen von schwarzer
Wimperntusche hinter sich herzogen. Marie konnte jeden
Moment aufkreuzen, und wenn sie ihre Tochter weinen
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