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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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sah,
weinte sie unweigerlich mit. Und es wäre Nadine unerträglich
gewesen, an einem solch trostlosen Morgen hier mit ihrer
Mutter zu sitzen und gemeinsam zu schluchzen.
Es hatte sie entsetzt zu hören, daß Henri hier gewesen war,
um mit ihr zu sprechen. Er hatte damit eine unausgesprochene
Regel verletzt, nämlich die, daß Le Beausset ihr Revier war,
das er nicht zu betreten hatte. So sehr sie die Schlucht und das
Haus haßte, so war es doch die einzige Rückzugsmöglichkeit,
die sie hatte, und sie hatte geglaubt, Henri wisse und
respektiere dies. Statt dessen kam er hier angetrampelt,
verletzte die Grenzen, wollte sie zurückholen und meinte,
wegen des geplanten Weggangs von Cathérine sei nun
zwischen ihnen alles in Ordnung. Wieso klammerte er sich an
eine so absurde Illusion? Das bedeutete, daß er
Schwierigkeiten machen würde, wenn sie ihm das Ende ihrer
Ehe erklärte.
Trotz allem wollte sie mit ihm reden, jedoch nicht hier, auf
ihrem Territorium, sondern an einem Ort, der nicht zu ihr
gehörte und den sie jederzeit wieder verlassen konnte.
Sie beschloß, am Abend zum Chez Nadine zu gehen, ihre
letzten Sachen zu holen und Henri für alle Zeit Lebewohl zu
sagen. Der Abend erschien ihr günstig: Es würden nicht viele
Gäste da sein, nicht zu dieser Jahreszeit, so daß sie Gelegenheit
haben würden, ein paar Worte zu wechseln. Aber ein oder zwei
Tische waren sicherlich besetzt, und Henri würde sich nicht für
längere Zeit aus dem Betrieb ausklinken können, und schon gar
nicht konnte er ihr folgen, wenn sie ging. Auf jeden Fall würde
dies der Angelegenheit einen zivilisierten, zeitlich begrenzten
Rahmen setzen.
Der Regen wurde heftiger. Das Tal war in einen Nebel
gehüllt, der fast undurchdringlich war. Die Welt versank in
Trostlosigkeit und Trauer. Marie kam in die Küche geschlurft,
den Bademantel eng um den Körper gezogen, die Haare wirr,
das Gesicht sehr alt und sehr müde.
»Es ist kalt«, seufzte sie.
Nadine drehte sich zu ihrer Mutter um, flehend und
hoffnungsvoll. »Mutter, laß uns das Haus verkaufen. Bitte! Wir
suchen uns eine hübsche kleine Wohnung am Meer, mit viel
Sonne und einem weiten Blick!«
Marie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie, »nein, dein Vater hat mich zu diesem
Leben hier verdammt, und so lebe ich es. Bis zum Ende.«
»Aber, Mutter, das ist doch ... das ist Wahnsinn! Warum tust
du dir das an? Warum tust du mir das an?«
Marie schüttelte erneut den Kopf, diesmal heftiger und
bestimmter. »Dir tue ich gar nichts an. Du mußt dein eigenes
Leben führen.«
Dann setzte sie sich an den Tisch, zog die Kaffeekanne und
eine Tasse zu sich heran, schenkte ein, stützte den Kopf in die
Hände und fing an zu weinen. So wie sie es jeden Morgen tat,
solange Nadine ihre Mutter kannte.
Mein eigenes Leben, dachte Nadine. Sie wandte sich wieder
zum Fenster.
Woher soll ich überhaupt wissen, was das ist?
2
    Monsieur Alphonse gab sich dienstbeflissen und
zuvorkommend und war offenbar sehr daran interessiert, den
Verkauf des Hauses zu übernehmen.
    »Quartier Colette«, sagte er, »besonders schöne Ecke.
Selten, daß dort etwas frei wird. Und die gesamte Gegend hier
wird immer begehrter. Ich glaube nicht, daß wir
Schwierigkeiten mit dem Verkauf haben werden.«
    »Zuerst möchte ich einfach nur eine Schätzung des Werts«,
sagte Laura zurückhaltend. »Alles weitere muß ich mir dann
überlegen.«
    »Natürlich. Das ist doch selbstverständlich«, versicherte
Monsieur Alphonse. Sein Maklerbüro lag in St. Cyr direkt
gegenüber dem Strandstück, an dem Laura und Peter in den
Sommern der vergangenen Jahre immer gebadet hatten. Laura
hatte sein Büro mit den hohen Glasfenstern daher stets vor
Augen gehabt, wenn sie zum Auto zurückgegangen waren, und
sie hatte es für das einfachste gehalten, sich in ihrer Situation
nun an ihn zu wenden.
    Monsieur Alphonse zog ein Notizbuch aus der
Schreibtischschublade, hüstelte, blätterte und tat nach Lauras
Eindruck ziemlich geschäftig. Sie erspähte kaum Einträge in
dem Terminkalender, dennoch tat der Makler so, als sei es
nicht einfach, eine freie Stunde zu finden.
    »Ich müßte es mir heute noch ansehen, sagen Sie? Nun ...
wie wäre es um vier Uhr? Das könnte ich ermöglichen.«
»Gern. Also dann um vier.« Laura erhob sich und wandte
sich zum Gehen. Dabei fiel ihr Blick auf den zweiten
Schreibtisch in diesem Büro, der schräg in der hinteren Ecke
stand. Es befanden sich ein Computer, ein Telefon und ein paar
Akten

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