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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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daß sie nicht geträumt hatte.
Da sie sicher war, jetzt nicht einschlafen zu können, zögerte
sie, ins Schlafzimmer zurückzukehren. Vielleicht würde es ihr
gut tun, einen heißen Kakao zu trinken.
    Sie knipste nun doch die kleine Stehlampe auf der Galerie an
und wollte gerade die Treppe hinuntergehen, da hörte sie
wieder etwas. Eine Art Knarren, das aber anders klang als das
Geräusch, mit dem der Wind an den Fensterläden rüttelte. Das
Haus hatte Laute, die sie gut kannte und sofort einzuordnen
wußte, aber dieser gehörte nicht dazu.
    Es hatte sich angehört, als sei jemand im Keller.
»Unsinn«, sagte sie noch einmal, jetzt aber fast flüsternd,
während ihr Hals plötzlich ganz eng wurde und sie
Schwierigkeiten hatte zu schlucken.
Der Kellertür, die sich seitlich am Haus befand, hatte sie nie
getraut. Ein ziemlich wackliges Ding aus Holz mit einem
einfachen Schloß. Sie hatte Peter ein paarmal darauf
angesprochen, ihn gebeten, dort irgendeine
Sicherheitsvorrichtung zu schaffen, aber es war dann immer
wieder vergessen worden, und da sie mit Peter zusammen nicht
wirklich Angst gehabt hatte, hatte sie nicht nachdrücklich
gedrängt. Jetzt dachte sie, daß es niemandem schwerfallen
konnte, durch diese Tür ins Haus zu gelangen. Man mußte, um
dorthin zu kommen, nicht einmal die Lichtschranke passieren,
die man sonst unweigerlich auslöste, wenn man sich der
Haustür näherte. Und deshalb konnte es sein, daß sie sich
keineswegs täuschte.
Jemand war im Keller.
Ihr nächster Gedanke war, sofort das Haus zu verlassen, aber
sie wagte sich nicht die Treppe hinunter und durch das
Wohnzimmer zur Tür, denn dort unten konnte der Fremde jede
Sekunde vor ihr stehen. Wenn sie sich im Schlafzimmer
verbarrikadierte, gewann sie Zeit, aber nicht für lange, denn
wenn er die Kellertür aufgebrochen hatte, gelang ihm das auch
mit der Schlafzimmertür. Und sie hatte dort drin kein Telefon,
um Hilfe herbeizuholen.
Sie vernahm das eigenartige Geräusch aus dem Keller erneut
und war jetzt sicher, daß die Holzstiegen knarrten, die von
unten heraufführten.
Für ein paar Sekunden lahmte die Angst sie völlig. Sie
konnte ihre Füße nicht bewegen, den Kopf nicht drehen, nicht
schlucken und nicht atmen. Sie stand nur da und wartete auf
das Verhängnis und dachte, daß sie sich in einem aberwitzigen
Alptraum befand.
Dann plötzlich kam Leben in sie. Mit zwei Schritten war sie
am Telefon, riß den Hörer hoch.
Die Polizei. Sie mußte die Polizei rufen. Wie, verdammt,
lautete der Notruf der französischen Polizei?
In ihrem Kopf herrschte Leere, aber es konnte auch sein, daß
sie die Nummer noch nie gewußt hatte. Wann hatten sie je die
Polizei gebraucht? Wann hatten sie sich schon um solche
Dinge gekümmert? Irgendwo hatte sie einen Zettel mit der
Nummer von Kommissar Bertin, aber vermutlich lag der beim
Telefon im Wohnzimmer oder steckte in ihrer Handtasche, von
der sie nicht wußte, wo sie war.
Lieber Gott, hilf mir. Laß mich eine Nummer wissen.
Es gab eine einzige Nummer aus der Gegend, die sie
auswendig kannte. Weil sie sie in besseren Zeiten so oft
gewählt hatte.
Die Nummer des Chez Nadine.
Ihr blieb nichts anderes übrig. Ihre Finger zitterten, als sie
die Zahlen tippte.
Wenn niemand zu Hause war, war sie verloren.
11
    Nadine wußte nicht, wie lange sie auf der Treppe gesessen
hatte. Es mochten Minuten gewesen sein, es konnte aber auch
länger gedauert haben. Sie hatte vor sich hin gestarrt, und
durch ihren Kopf waren Bilder gezogen; Erinnerungen aus den
vergangenen Jahren, Erinnerungen an Henri, an ihr
gemeinsames Leben in diesem Haus, an das Meer aus Tränen,
das sie hier in diesen Räumen vergossen hatte. Mit einer sie
seltsam anmutenden Teilnahmslosigkeit war sie den Bildern
gefolgt, die eine Bilanz ihres bisherigen Lebens darstellten. Die
Ruhe, mit der sie das Debakel betrachtete, stellte erstmals
einen Schritt fort von der üblichen Selbstzerfleischung dar, mit
der sie sich sonst peinigte. Vielleicht einen Schritt hin zu der
Fähigkeit, das Geschehene ohne Beschönigung, aber auch ohne
Selbsthaß zu akzeptieren,
    Als das Telefon plötzlich schrillte, schrak sie zusammen und
wäre fast auf die Füße gesprungen. Hatte der Apparat schon
immer so laut geklingelt? Oder schien es nur so, weil es im Chez Nadine noch nie so still gewesen war wie an diesem
späten Abend?
    Sie hatte nicht vor, sich zu melden, denn sie empfand sich
nicht mehr als zu diesem Haus gehörig,

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