Die Taeuschung
Pauline.
»Eine alte Bekannte«, sagte Stephane. »Hatte sich mal
eingebildet, ich würde sie heiraten. Und inzwischen ist sie
offenbar durchgeknallt. Oder hast du«, er sah jetzt wieder
Cathérine an, »eine richtig gute Erklärung für diesen Auftritt
hier?«
»Hast du vor Berard gewartet, Stephane?« fragte Pauline. Ihr
Kopf schmerzte, und im Mund hatte sie einen schlechten
Geschmack.
»Natürlich nicht«, sagte Stephane empört, »glaubst du, ich
stelle mich bei diesem Wetter vor ein Hotel und hole mir eine
Lungenentzündung?«
»Und wenn ich wirklich dem Mörder begegnet wäre?« Sie
fühlte sich sehr einsam. Sehr kalt. Sehr leer.
»Den Mörder siehst du doch hier! Ich habe plötzlich einen
Schatten am Fenster bemerkt, bin hinausgestürzt und habe sie
gerade noch erwischt. Sie wollte schon hinten durch den
Garten über die Mauer. Was bei ihrer Leibesfülle natürlich
nicht ganz einfach ist. Immerhin wissen wir jetzt, daß du nicht
an Wahnvorstellungen gelitten hast, Pauline. Es ist wirklich
jemand ums Haus herumgeschlichen. Denn das war ja heute
nicht das erste Mal, nicht wahr, Cathérine?«
Pauline sah Cathérine an. »Sind Sie mir heute gefolgt?«
»Nein. Ich habe hier gewartet. Auf der Terrasse.«
»Ich hätte gute Lust, dich zur Polizei zu schleppen,
Cathérine«, dröhnte Stephane. »Was, um alles in der Welt,
sollte das denn?«
Cathérine wandte langsam den Kopf zu ihm hin. Pauline
fand, daß sie tragisch aussah, zerstört, besiegt. »Ich wollte
einfach nur wissen, wie ihr lebt.«
»Wie wir leben?«
»Ich hätte sie sein können«, sagte Cathérine mit einem Blick
auf Pauline, »und ich versuchte, ein Stück mit euch zu leben.
Ich kam jeden Tag hierher.« Sie senkte den Kopf. »Ich wollte
niemandem etwas antun.«
»Sie ist tatsächlich durchgeknallt!« sagte Stephane. »Du
wolltest niemandem etwas antun? Weißt du, was du mit
Pauline gemacht hast? Sie dachte schon, dieser Verrückte ist
hinter ihr her, der Leute erdrosselt. Sie hat keine Nacht mehr
geschlafen, sie war ein Nervenbündel, wir hatten nichts als
Streit ... und das alles nur wegen einer Verrückten, die selber
keinen Kerl abgekriegt hat und deshalb meint, es bringt ihr
etwas, wenn sie bei anderen Menschen durchs Fenster späht
und sich vorstellt, sie würde dazugehören! O Gott, Cathérine,
ich mache ja heute noch drei Kreuze, daß ich damals so schnell
das Weite gesucht habe!«
»Es tut mir leid«, sagte Cathérine zu Pauline, »ich wollte Sie
nicht ängstigen. Es ist nur so, daß ich ... ich habe einfach
niemanden.«
»Und das ist ja wohl kein Wunder«, höhnte Stephane,
»schau dich doch nur an!« Er schüttelte sich vor Abscheu.
Pauline fand, daß er sehr selbstgerecht aussah mit seinem
dicken Bauch und dem empörten Gesichtsausdruck. »Du warst
schon damals häßlich wie die Nacht, aber es ist dir tatsächlich
gelungen, das noch zu steigern. Du bist ein Monstrum, und du
solltest dich endlich damit abfinden. Mir zu erzählen, du seist
verheiratet! Und ich Trottel glaube das auch noch! Einen
solchen Notstand kann überhaupt kein Mann haben, daß er sich
mit dir einließe!«
Pauline sah, daß die Nerven in den Schläfen der Frau zu
pochen begannen. Sie hatte noch nie ausgeprägt über die
Fähigkeit verfügt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen,
aber in dem Moment stellte sie sich vor, was in dieser
Catherine vorgehen mußte, wenn sie solche Worte hörte, und
sie konnte nicht anders, als Mitleid mit ihr zu empfinden.
Zumal es bestimmt nicht das erste Mal war; es mochte nicht in
der gleichen Direktheit und Derbheit geschehen sein, aber ganz
sicher hatte sie ihr Leben lang höhnische oder herablassende
Blicke und taktlose, demütigende Bemerkungen ertragen
müssen. Wie lebenswert mochte sie ein solches Dasein
empfinden?
Wie verzweifelt mußte man sein, um zu tun, was sie getan
hatte: wochenlang in einem fremden Garten kauern, durch ein
fremdes Fenster spähen, sich zum unsichtbaren Beobachter
eines fremden Lebens zu machen, um ein eigenes ungelebtes
Leben zu kompensieren? Und wer war die Frau, mit der sie die
Identifikation gesucht hatte? Die Frau, deren Handtasche auf
dem Gartenweg lag, wo sie sie hatte fallen lassen, um sich in
den Oleander hinein zu übergeben, weil die Angst sie
aufgefressen hatte in den letzten Wochen. Die Frau, die von
ihrem eigenen Mann ständig im Stich gelassen wurde, sogar
am heutigen Abend, entgegen seinem festen Versprechen.
»Darf ich gehen?«
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