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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Person, die er gerade am wenigsten brauchen konnte. Die
verantwortlich war für den rasenden Schmerz in seinem Fuß.
Ganz leise trat er an die Kellertür heran. So leise es
jedenfalls ging mit dem schleifenden Fuß. Die Kreatur mußte
direkt hinter der Tür stehen und wurde in ihrer Verzweiflung
nun auch mutiger: Sie machte sich lauter und deutlicher an dem
Schloß zu schaffen. Sie versuchte es aufzubrechen. Den
Geräuschen nach zu schließen, benutzte sie nicht nur ihre
Fingernägel. Sie hatte irgend etwas in der Hand, ein Stück
Eisen, zumindest ein Stück Blech. Nicht schwierig, so etwas im
Keller aufzutreiben. Er mußte vorsichtig sein.
Die Kellertür ging nach innen auf. Und der Absatz, auf dem
man stehen konnte, ehe die Treppe begann, war sehr schmal.
Die Treppe selbst war steil und uneben, aus groben Steinen
gebaut.
Es gab kein Geländer. Er erinnerte sich, wie Carolin darüber
immer gejammert hatte.
»Eines Tages stürzt sich dort jemand zu Tode«, hatte sie oft
gesagt.
Er drehte den Schlüssel um und stieß die Tür kraftvoll auf,
ehe er lange überlegen oder zögern konnte.
Er sah noch ihr entsetztes Gesicht. Ihre weit aufgerissenen
Augen. Ihre Arme, die plötzlich wild ruderten und ins Leere
griffen. Er hörte das Klirren, als ihr der Wagenheber aus den
Händen fiel und die Treppe hinunterpolterte. Stufe um Stufe.
Er sah sie um ihr Gleichgewicht kämpfen und wußte, daß sie
verloren hatte. Er hatte sie zu hart und zu unvorbereitet
getroffen. Sie würde innerhalb von Sekunden dem Wagenheber
in die Tiefe des Kellers folgen.
Er sah sie stürzen, sah sie sich überschlagen, hörte die
dumpfen Laute, mit denen ihr Kopf auf die Steinstufen schlug.
Er hörte sie schreien. Er wußte, daß sie sterben würde.
Das einzige, was er nicht wußte, war, daß sie in der Sekunde,
ehe sie das Bewußtsein verlor, an einen Garten mit einem
Pfirsichbaum dachte.
Aber das hätte ihn auch nicht im mindesten interessiert.
9
    Nadine war überrascht, das Chez Nadine erneut geschlossen
vorzufinden, als sie um zwanzig vor zehn am Abend dort
eintraf. Sie hatte die Uhrzeit für passend befunden: Um diese
Jahreszeit kamen eher Einheimische zum Essen, und diese
aßen spät, meist erst ab neun Uhr. Zwischen neun und halb elf
würde Henri unabkömmlich sein. Ein kurzes, klärendes
Gespräch in der Küche – sie wollte ihn dabei nun auch
definitiv um eine schnelle, einvernehmliche Scheidung bitten –
, dann würde sie die letzten Sachen packen und verschwinden.
    Soweit ihr Plan. Aber wie sie erkennen mußte, hatte er sich
einer Aussprache wiederum entzogen. Nirgends im Haus
brannte Licht, und auch sein Auto stand nicht auf dem
Hinterhof. Er war fort, und das womöglich für längere Zeit.
    Sie war frustriert, weil sie gehofft hatte, die Dinge endlich
regeln zu können und sie damit vom Tisch zu haben, und sie
fragte sich, ob er gezielt auf Zeitgewinn einarbeitete, und was
er damit erreichen wollte. Und wo mochte er sich überhaupt
aufhalten?
    Bei Cousine Cathérine – trotz deren Trennungsabsichten?
Am Ende wird er gleichzeitig von den beiden Frauen in
seinem Leben verlassen, dachte sie, während sie die Tür zum
Lokal aufschloß und nach dem Lichtschalter tastete, aber so
kommt es ja meistens.
Der vertraute Geruch nach Strohblumen, Holztischen und
provenzalischen Gewürzen und Kräutern empfing sie. Trotz
allem heimatliche Düfte, die ihr Leben von nun an nicht länger
begleiten würden. Sie überlegte, ob sich ein Anflug von
Wehmut in ihr Gemüt geschlichen hatte, schob diesen
Gedanken aber rasch wieder beiseite. Wenn alles so gegangen
wäre, wie es hätte gehen sollen, wäre sie schon lange fort, und
zwischen ihr und dem Chez Nadine läge der ganze Atlantik.
Ihr Koffer stand noch dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte.
Sie hatte von ihrer Mutter zwei Reisetaschen mitgebracht, in
die sie noch einige Kleidungsstücke, Schuhe und persönliche
Gegenstände packen würde.
Als sie die Treppe hinaufgehen wollte, entdeckte sie das
weiße Kuvert, das an der zweiten Stufe lehnte. Es stand kein
Name darauf, aber sie nahm an, daß es für sie gedacht war, und
so zog sie den sauber gefalteten Briefbogen heraus. Sie
erkannte sogleich Henris Schrift. In kurzen Worten teilte er ihr
mit, daß das Ende für sie beide gekommen sei und daß er diese
Entwicklung akzeptiere. Die Situation stelle sich für ihn als
sehr belastend dar, und so werde er nun »zu der einzigen Frau
fahren, die mich je

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