Die Taeuschung
Regen stand und sie mit jeder Sekunde
mehr haßte, und nun plötzlich war sie überzeugt, daß er gar
nicht erst erschienen war. Sie kannte ihn, er war
außerordentlich bequem, und sein Feierabend mit einer Flasche
Wein vor dem Fernseher war ihm heilig. Weshalb sollte er sich
in einer kalten Oktobernacht in den Regen stellen und den
Hirngespinsten seiner Frau nachforschen?
Es war kein Mensch zu sehen auf der Straße, es regnete dünn
und gleichmäßig. Der Wind frischte langsam auf; im Lauf der
Nacht würde es wohl noch richtig stürmisch werden. Der
schwarze Asphalt glänzte vor Nässe. Pauline spannte ihren
Schirm auf. Sie brauchte zehn Minuten für den Heimweg. Er
führte durch schmale Gassen, vorbei an Toreinfahrten und
Mauervorsprüngen. Tausend Möglichkeiten für den Täter, sich
zu verstecken und ihr aufzulauern. Sie merkte, wie eine
Gänsehaut ihren Körper überzog und sich ein eigenartiges
Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Vielleicht hatte sie nur
noch wenige Minuten zu leben.
Am liebsten hätte sie laut nach Stephane gerufen. Ihn
gebeten, sich zu zeigen, neben ihr herzugehen. Ihr zu zeigen,
daß er wirklich da war.
Aber sie traute sich nicht. Denn wenn er da war, wenn er hier
irgendwo stand und wartete und fror, dann würde er außer sich
sein vor Wut, wenn sie alles verdarb. Wenn sie seinen Plan
umwarf. Er würde sich kein zweites Mal bereit erklären, ihr zu
helfen.
Sie ging los. Ihre Absätze klackten auf der Straße. Darüber
hinaus konnte sie nichts hören, nur die Geräusche des Regens
natürlich, das Rauschen und Gluckern. Er bot eine wunderbare
Gelegenheit, sich unbemerkt anzuschleichen. Sie hätte es nicht
bemerkt. Nicht ehe sich eine Hand um ihren Hals ...
Sie beschleunigte ihren Schritt. Stephane würde fluchen,
aber ihre Nerven waren jetzt dicht vor dem Zerreißen. Am
liebsten wäre sie gerannt. Wenn sie zu Hause war – falls sie je
dort ankam –, würde sie sich übergeben, das spürte sie bereits.
Ihr Magen benahm sich wie auf einer Achterbahn.
Die letzten Meter rannte sie tatsächlich. Sie stieß das Tor
auf, lief den Gartenweg entlang, kramte zugleich hektisch in
ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie sah, wie die Haustür
aufgerissen wurde, eine Gestalt, die sie im Gegenlicht nur als
Schatten erkennen konnte, herauskam und um das Haus herum
im Garten verschwand. Sie begriff nicht, was sich abspielte,
und wußte nur, daß sie es nicht mehr bis zur Toilette schaffen
würde.
Die Handtasche entglitt ihr und fiel auf den nassen Weg. Sie
beugte sich zur Seite und erbrach sich in die Oleanderbüsche.
Wieder und wieder.
Kotzte ihre Angst heraus, ihre Frustration und die
Trostlosigkeit ihres Daseins. Sank auf die Knie und machte
weiter und empfand ein eigenartiges Gefühl von Erleichterung.
»Ich kann das nicht glauben!« sagte Stephane. »Wenn ich
jeden hier erwartet hätte – dich ganz bestimmt nicht!«
Pauline, die mit weichen Knien den Gartenweg
entlangschlich, bot sich ein seltsames Bild: Stephane, der aus
dem hinteren Teil des Gartens auftauchte und eine riesige,
nasse Gestalt halb hinter sich herschleifte, halb vor sich
herschob, die sich, als sie beide in den Lichtkegel des aus der
geöffneten Haustür fallenden Scheins traten, als eine dicke
Frau im dunklen Regencape entpuppte. Die Kapuze, die sie tief
in die Stirn gezogen hatte, rutschte soeben vom Kopf. Die Frau
hatte wirres Haar und ein bleiches, von häßlichen Narben
entstelltes Gesicht. Sie wirkte zu Tode erschrocken.
»Stephane«, fragte Pauline, »was ist passiert?«
»Das wüßte ich auch gern«, antwortete Stephane grimmig.
Er trug die graue Strickjacke, in die er sich an kühlen Abenden
hüllte, und seine Filzpantoffeln. Pauline versuchte diese Fakten
in ihrem Kopf einzuordnen. Er war doch hinter ihr gewesen?
Er war doch nicht in Pantoffeln losgegangen?
»Und zwar«, fuhr er fort, »wüßte ich das gerne von dir!«
Er stieß die große, dicke Frau an. »Was, zum Teufel, hattest
du hier in unserem Garten zu suchen?«
Die Frau antwortete nicht. Sie hob nur die Hand und
bemühte sich vergeblich, ihre struppigen Haare zu glätten.
»Ich schätze, das hier ist dein Killer«, sagte Stephane zu
Pauline gewandt, »Cathérine Michaud. Oder heißt du anders
jetzt? Du hattest doch geheiratet?«
Zum erstenmal öffnete die Frau den Mund. »Nein. Ich habe
nicht geheiratet.«
»Aber du sagtest doch ...«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wer ist sie?« fragte
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