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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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links fuhr, konnte gerade noch mit quietschenden Reifen
bremsen.
Nadine bekam ihren Wagen unter Kontrolle und überquerte
die Brücke.
Es war besser, als die ganze Nacht nicht zu schlafen.
Sie würde nachsehen, was mit Laura los war, und dann
würde sie so rasch wie möglich zu ihrer Mutter fahren.
Auf gar keinen Fall würde sie sich auf ein Gespräch
einlassen.
14
    Als sie noch ein Kind gewesen war, zwölf Jahre alt vielleicht,
hatte sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben: Ich bin so froh,
daß ich Henri habe. Er ist mein einziger Freund. Er versteht
mich. Ich glaube nicht, daß es etwas gibt, was ich ihm nicht
sagen könnte. Und egal, wie schlecht es mir geht, er sagt
immer etwas, das mir das Gefühl gibt, daß alles nicht so
schlimm ist.
    Das ist der Tiefpunkt, dachte sie, der absolute Tiefpunkt
meines bisherigen Lebens. All die Demütigungen und
Tiefschläge der vergangenen Jahre waren nur das Vorspiel.
Jetzt habe ich den Tiefpunkt erreicht.
    Ihre Hände zitterten, und alle Gegenstände sah sie wie von
fern: das Lenkrad, der Schalthebel, der Rückspiegel, an dem
ein kleines Äffchen aus Stoff schaukelte, die Scheibenwischer,
die quietschend über die Scheibe glitten. Sicher hätte jeder ihr
geraten, jetzt nicht Auto zu fahren. Aber ihr war das
gleichgültig. Und wenn sie einen Unfall baute, dann baute sie
ihn eben. Sie konnte nicht entstellter sein, als sie schon war.
Sie konnte nicht toter sein.
    Wann immer ihr die Szene in dem dunklen Garten wieder in
den Sinn kam, versuchte sie die Bilder sofort zu stoppen.
Ich will nicht darüber nachdenken. Ich muß nicht darüber
nachdenken. Es ist geschehen, und es ist vorbei.
Das Schlimme war, daß sie Stephanes Stimme nicht
abschalten konnte. Sie dröhnte in ihren Ohren.
Du bist ein Monstrum. Du warst schon damals häßlich.
Einen solchen Notstand könnte ein Mann gar nicht haben, daß
er sich mit dir einließe!
»Ich will das nicht hören!« sagte sie laut.
Es irritierte sie, daß das Zittern ihrer Hände immer
schlimmer wurde und daß immer noch alles so weit weg
schien. Auf einer fast unterbewußten Ebene ahnte sie, daß sie
einen Zusammenbruch haben würde und daß sie dann nicht
allein sein durfte. Sie hatte schon oft in ihrem Leben über
Selbstmord nachgedacht, wenn die Akne sie wieder so sehr
quälte, wenn das Getuschel der Menschen besonders schlimm
wurde, wenn die Einsamkeit ihrer Wohnung sie fast erdrückte.
Irgendwann hatte sie gespürt, daß sie in der Lage dazu wäre,
gäbe es nur einen Auslöser, der über das gewohnte Maß an
Leid hinausginge.
Vielleicht war er jetzt eingetreten.
Sie hatte versucht, die Angelegenheit zu bagatellisieren, als
sie durch den Regen zu ihrem Auto gehastet war, Stephanes
Brüllen hinter sich: »Nun hau schon ab!«
Einmal wäre sie fast ausgerutscht und hingefallen, und dann
bekam sie den Schlüssel nicht ins Schloß. Sie sagte sich, daß es
natürlich dumm gewesen war, was sie getan hatte, und daß
deshalb Stephanes Reaktion so heftig ausfiel. Seine Frau hatte
offenbar in größter Angst gelebt.
»Sie hat gedacht, ich sei der Killer!« sagte sie laut und lachte
schrill, aber das Lachen war allzu dicht an der Grenze zum
Weinen, und sie brach es rasch ab. Sie bekam endlich die
Wagentür auf und setzte sich ins Auto – eine große, fette
Raupe kriecht in ihre Behausung, war der Gedanke, der sie
dabei begleitete –, und dann brauchte sie wiederum eine Weile,
um das Zündschloß zu erwischen. Als wäre ich betrunken,
dachte sie. Als wie krank würde wohl ein Psychiater sie
einstufen nach dieser Tat? Sie war von Stephane damals
gnadenlos abserviert worden, und nun ging sie hin und
identifizierte sich so stark mit der Frau, die er schließlich
geheiratet hatte, daß sie süchtig wurde nach täglichen
Bespitzelungen und Überwachungen. Es war irgendwann zu
einer festen Einrichtung geworden, die sie nicht mehr missen
mochte, die zu ihrem Alltag gehörte und ihm Struktur gab, vor
allem dann, wenn sie nicht ins Chez Nadine gehen durfte.
Einfach mal sehen, was Pauline so trieb ... Daheim, an ihrem
Arbeitsplatz ... Sie hatte schließlich recht gut über deren
Gewohnheiten Bescheid gewußt, kannte ihre Tagesabläufe, die
Uhrzeiten, an denen bestimmte Dinge geschahen. Ein paarmal
war sie ihr sogar mit dem Wagen gefolgt, hatte verschiedene
Autos gemietet, um nicht identifizierbar zu sein.
Sie war Paulines Schatten gewesen, und als Schatten hatte
sie ein Stuck Zugehörigkeit

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