Die Taeuschung
Kneipe.
Das Meer. Es hatte am gestrigen Abend schon geregnet, es war
ziemlich kühl gewesen. Er hatte Whisky getrunken. Er trank
immer Whisky, wenn er das Leben zu vergessen suchte.
Irgendwann hatte irgend jemand, der Ober vielleicht, ihn zum
Aufhören bewegen wollen. Er konnte sich noch erinnern,
ziemlich aggressiv geworden zu sein. Er hatte nicht aufgehört.
Er hatte auf seinem Recht beharrt, bedient zu werden.
Und dann der Filmriß. Von einem bestimmten Punkt an
verschwand alles im Dunkeln. Er hatte keine Ahnung mehr,
was passiert war. Aber da er in seinem Hausflur lag, mußte er
auf irgendeine Weise heimgekommen sein. Ihm schwindelte
bei dem Gedanken, daß er womöglich Auto gefahren war. Zu
Fuß konnte er bis La Cadiére nicht kommen. Wenn er sich
tatsächlich noch hinter das Steuer gesetzt hatte, war es ein
Wunder, daß er noch lebte.
Das Telefon hatte einen Moment geschwiegen, nun setzte
das Klingeln wieder ein. Christopher beschloß, zum Apparat zu
rollen und das Kabel aus der Wand zu reißen, denn andernfalls
würde ihn das Läuten zum Wahnsinn treiben. Er richtete sich
auf, stützte sich auf seine Arme, und in diesem Moment wurde
ihm sterbensübel. Er kotzte quer über den Flur, und dann kroch
er durch sein Erbrochenes hindurch in das kleine, düstere
Zimmer. Kurz bevor er das Telefon erreichte, wurde ihm
erneut schlecht, und er übergab sich noch einmal. Undeutlich
erinnerte er sich an einen anderen Moment in seinem Leben,
als ihm so schlecht gewesen war, daß er ins Zimmer gekotzt
hatte. Er war noch klein gewesen, ein Kind, und seine Mutter
hatte der Familie gerade eröffnet, sie werde fortgehen. Für
immer. Er hatte begonnen zu schreien und sich zu erbrechen,
aber sie war nicht zu erweichen gewesen. Sie hatte mit
schnellen Schritten das Haus verlassen und sich nicht mehr
umgedreht.
Er änderte seine Meinung und riß nun doch nicht den Stecker
aus der Wand. Stattdessen zog er sich am Tisch hoch, nahm
den Hörer ab und ließ sich an der Wand entlang wieder
langsam zu Boden gleiten.
»Ja?« sagte er. Er war nicht sicher gewesen, ob er einen Ton
herausbringen würde, aber zu seiner Verwunderung hörte sich
seine Stimme zwar etwas krächzend, aber ansonsten durchaus
kräftig an. Es klang eher, als habe er eine Erkältung als einen
schweren Kater.
Nach so vielen Jahren in Frankreich überraschte es ihn
jedesmal im ersten Moment, wenn er am Telefon auf Deutsch
angesprochen wurde. Nach ein paar Sekunden erkannte er
Lauras Stimme. Peters Frau. Und sofort begriff er, daß er
gewußt hatte, sie würde anrufen, und daß sein Besäufnis vom
Vorabend auch damit etwas zu tun gehabt hatte.
»Christopher? Ich bin es. Laura Simon.« Sie nannte ihren
vollen Namen, was sie ihm gegenüber sonst nie tat und was auf
Nervosität schließen ließ. »Gott sei Dank, daß du da bist! Ich
versuche es schon seit einer halben Stunde!«
»Laura. Wie geht es dir?«
»Bist du erkältet?« fragte sie, statt einer Antwort, zurück.
»Du klingst so merkwürdig!«
Er räusperte sich. »Ein bißchen. Das Wetter hier ist
scheußlich.«
»Deshalb seid ihr auch nicht unterwegs, oder? Peter sagte,
ihr wolltet früh aufbrechen.«
»Es regnet in Strömen.«
»Ist Peter bei dir? Ich versuche seit Stunden, ihn zu
erreichen. Im Haus erwische ich ihn nicht, über sein Handy
nicht ...«
Das Erbrechen hatte seinen Kopf ein wenig klarer gemacht.
Er konnte ihren Worten folgen.
Scheiße, Scheiße, dachte er, was antworte ich ihr?
»Hier ist er nicht«, sagte er mürrisch, »keine Ahnung, wo er
stecken könnte.«
Vom anderen Ende der Leitung kam entgeistertes
Schweigen. Dann sagte Laura mit rauher Stimme – in der er die
Verzweiflung erkannte, in der sie seit Stunden lebte –: »Das
kann doch nicht sein. Was heißt, du weißt nicht, wo er steckt?«
»Es heißt, was es heißt. Was soll ich sonst dazu sagen?«
»Christopher, ihr wart doch verabredet! Ihr wolltet euch
entweder gestern abend noch oder spätestens heute früh treffen
und dann lossegeln. Wie kannst du dann so gelassen erklären,
du hättest keine Ahnung, wo er sich aufhält?«
»Er ist nicht aufgetaucht«, sagte Christopher, »gestern abend
nicht und heute früh auch nicht.«
Sie schnappte nach Luft. Gleich würde sie schrill werden,
Frauen wurden immer schrill, wenn sie sich aufregten.
»Und du tust nichts?« fragte sie fassungslos. »Dein bester
Freund erscheint nicht zum vereinbarten Zeitpunkt, und das interessiert dich
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