Die Taeuschung
waren und auf das, was Maries Vater zuschoß, wofür jedoch
langwieriges Bitten und Betteln notwendig waren. Sie hatte die
Tränen ihrer Mutter satt und die trostlose Eintönigkeit eines
jeden Tages.
Heute dachte sie oft, sie hätte Henri nie geheiratet, wäre er
ihr nicht als die einzige Möglichkeit erschienen, den
heimatlichen Staub von den Füßen zu schütteln.
»Weißt du, Kind«, sagte Marie nun, »du rätst mir immer,
was ich tun soll, um glücklicher zu werden. Aber die Wahrheit
ist doch die, daß ich mein Leben gelebt habe. Du hingegen hast
deines noch vor dir!«
»Ich bin dreiunddreißig!«
»Da steht dir wirklich noch alles offen. Wenn du es klüger
anstellst als ich. Mit dreiunddreißig hatte ich eine fast
erwachsene Tochter und war von meinem Mann sitzen
gelassen worden, nachdem er mir jahrelang das Leben zur
Hölle gemacht hatte. Aber ...«
»Ganz richtig«, unterbrach Nadine, »deine Tochter war fast
erwachsen. Du warst frei. Aber du hast dich nicht bewegt.«
Marie stellte ihren Becher mit Kaffee, den sie gerade hatte
zum Mund führen wollen, mit einem Klirren auf den Tisch.
»Dein Vater«, sagte sie heftig, »hat mir Tatkraft, Energie,
Lebensfreude langsam aus allen Gliedern gesaugt. Er hat mich
zerstört. Mit dreiunddreißig war ich verbittert und ohne Mut,
wenige Jahre später eine alte Frau. Doch bei dir ist das anders.
Du bist glücklich mit Henri. Er ist ein wunderbarer Mann. Von
Anfang an hat er dich auf Händen getragen. Es gibt keinen
Grund, warum du ...«
»Ja? Was wolltest du sagen?«
»Du siehst miserabel aus, um ganz ehrlich zu sein. Das fiel
mir schon bei deinem letzten Besuch auf, und der liegt fast acht
Wochen zurück. Da war das Wetter wunderschön, und vom
Übergang in den Herbst konnte noch keine Rede sein.
Trotzdem hattest du eine Leichenbittermiene ... Was ist los? Da
sind Furchen um deinen Mund, die bekommen andere zehn
Jahre später.«
»Ach Gott, Mama!« Nadine stand auf. Sie hatte stark
abgenommen in den letzten Wochen und wußte, daß sie
ungeheuer zerbrechlich aussah. Die vergangene Nacht hatte sie
ihre letzten Kräfte gekostet. Sie war verzweifelt und völlig
hoffnungslos. »Mama, dring doch nicht plötzlich so in mich.
Du hast früher nie gefragt, warum dann jetzt auf einmal?«
»Ich habe früher nie gefragt? Ich habe immer wissen wollen,
wie es dir geht. Ich habe mich immer erkundigt. Ich glaube
nicht, daß du mir vorwerfen kannst ...«
Nadine bemerkte, daß sie Kopfweh bekam. Ihre Mutter war
weder eine unintelligente noch eine verständnislose Frau, aber
ihr persönliches Versagen im Leben ihrer Tochter würde sie
nicht begreifen.
»Mutter, ich will dir gar nichts vorwerfen. Aber deine
Fragen nach meinem Befinden beschränkten sich auf das
übliche ›Na, wie geht’s?‹. Worauf ich das übliche ›Gut‹ oder
›Es geht‹ antwortete. Besonders nachgehakt hast du nie.«
Marie wirkte einigermaßen perplex. »Aber du schienst
immer glücklich!«
Nadine lächelte bitter. »Glücklich! Du weißt, daß ich,
solange ich lebe, nichts so sehr wollte, wie Le Beausset zu
verlassen. Dieses Loch hier, in das du dich hast sperren lassen
und das auch zu meinem Gefängnis wurde. Und wie weit habe
ich es geschafft? Bis nach Le Liouquet in La Ciotat! Verdammt
weit, nicht wahr? Bis in eine idiotische Küche mit einem noch
idiotischeren Pizzaofen. Meinst du, davon habe ich geträumt
während all der Jahre in der Schlucht hier?«
»Aber Henri ...«, begann Marie erneut mit schwacher
Stimme.
Nadine sank auf ihren Stuhl zurück. »Laß mich mit Henri
zufrieden«, sagte sie, »laß mich um Gottes willen mit Henri
zufrieden!«
Dann tat sie das, was für gewöhnlich ihre Mutter zu tun
pflegte: Sie stützte den Kopf in die Hände und fing an zu
weinen. Das kam bei Nadine sonst praktisch nie vor.
Diesmal jedoch schluchzte sie so bitterlich, als sei ein
Schmerz in ihr, der sie auffraß, der nichts mehr von ihr
übrigließ als ein unendliches Meer von Tränen.
4
Laura war kurz nach sieben Uhr vom Joggen zurückgekehrt,
hatte sich Tee gemacht und die Tasse mit ins Bad genommen,
wo sie ausgiebig duschte, ihre Haare fönte, sich sorgfältig
schminkte und schließlich sogar noch ihre Fußnägel lackierte.
Sie wußte nicht, weshalb sie sich an diesem Sonntagmorgen so
gründlich pflegte; für gewöhnlich ließ sie sonntags eher fünf
gerade sein und blieb manchmal bis abends in Jogginghose und
Sweatshirt. Diesmal hatte sie jedoch das Empfinden
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