Die Taeuschung
Kindern zum
Schwimmen an den Strand gehen, und im Herbst nicht mit
ihnen auf der Uferpromenade Skateboard fahren. Keine
Picknicks mehr an lauen Frühlingsabenden in den Bergen,
keine gemeinsamen Besuche mehr bei McDonald’s, keine
Ausflüge ins Hinterland zu Lavendelfeldern und waldigen
Tälern. Kein lautes, ausgiebiges Frühstück mehr am
Sonntagmorgen, kein fröhliches Lachen mehr in den Räumen.
Nur noch Stille, Leere und Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die
für Christopher häufig den Gedanken an den Tod verlockend
machte. In all den Jahren hatte er diesen Einschnitt in sein
Leben nicht verwunden.
Jacques empfand aufrichtiges Mitleid für den Mann, den er
im weitesten Sinn zu seinen Freunden zählte.
»Ich bring dir jetzt erst einmal einen Kaffee«, sagte er, »ich
denke, den kannst du brauchen.«
»Und einen Pastis!«
»Keinen Alkohol heute früh«, sagte Jacques streng, »du bist
am Samstag haarscharf an einer Alkoholvergiftung
vorbeigeschrammt. Du solltest eine Weile etwas kürzer treten.«
»Ich bin hier der Gast, Jacques, bring mir einen Pastis!«
Jacques seufzte. »Auf deine Verantwortung. Deine Leber
wird aufschreien, aber du mußt wissen, was du ihr antust.«
Er ging in die Küche, während Christopher die Wände
anstarrte und in seinem Kopf die Fetzen von Bildern des
vergangenen Samstagabends zusammenzusuchen sich
abplagte. Es gelang ihm nicht, eine durchgängige Linie
herzustellen. Von irgendeinem Moment an versank der Abend
immer wieder in einem diffusen Nebel, der sich nicht lichten
ließ.
Jacques kehrte mit Kaffee und Pastis zurück, und
Christopher fragte: »Was war Samstag eigentlich los?«
»Du meinst, als ...«
»Ja. Als ich hemmungslos zu saufen begann. Was war
vorgefallen?«
»Nichts. Du hattest deine übliche Depression. Du kamst
gegen zehn Uhr hier an und erklärtest, das Leben habe keinen
Sinn mehr.«
»Und dann?«
Jacques zuckte mit den Schultern. »Dann hast du Schnaps
bestellt. Einen nach dem anderen. Ab und zu einen Whisky
dazwischen. Du hast von deinen Kindern geredet und von
deiner Frau. Es war eigentlich so wie fast jeden Samstag abend.
Die Wochenenden, du weißt, sie sind für dich immer ...«
»Nicht nur die Wochenenden«, sagte Christopher, »weiß
Gott, nicht nur die Wochenenden.« Er drehte sein Glas hin und
her, starrte in die milchige Flüssigkeit.
»Das Leben«, meinte er, »ist einfach nur ein großer Haufen
Scheiße.«
3
»Wir sollten vielleicht einmal miteinander reden«, sagte Henri
sanft. Es war kurz nach acht Uhr morgens, und es war
ungewöhnlich für ihn, an seinem freien Tag schon so früh auf
den Beinen zu sein. Die Wochenenden waren hart, und den
Montag nutzte er stets, um endlich einmal richtig
auszuschlafen. An diesem Tag hatte er das Haus schon um
sechs Uhr verlassen und war zu einem Spaziergang
aufgebrochen. Nun war er zurückgekehrt, sah aber nicht
erfrischt aus, sondern blaß und sorgenvoll.
Ein ältlicher Pizzabäcker, dachte Nadine feindselig.
Er würde früh altern, das zeichnete sich jetzt schon ab.
Vielleicht lebte er zu angestrengt, arbeitete zu hart. Er war ein
fröhlicher, unbekümmerter Mann gewesen, als Nadine ihn
kennengelernt hatte, ein auffallend gutaussehender Mann, der
hervorragend surfte und Wasserski lief, viel zu rasant Auto
fuhr und sich in den Diskotheken entlang der Küste als
unermüdlicher Tänzer erwies. Er schien Nadine wie
geschaffen, sie aus dem tristen Leben mit ihrer Mutter zu
befreien.
Sie waren beide jung, attraktiv und lebenslustig und wurden
sehr schnell ein Paar. Eine Zeitlang taten sie nur, was ihnen
Spaß machte: Sie mieteten Segelboote und verbrachten endlose
Sommernachmittage in den kleinen idyllischen Buchten
entlang der Küste. Mit Dutzenden von Freunden – ebenfalls
alle schön und jung und unbeschwert – veranstalteten sie
Grillabende am Strand oder in den Bergen. Sie unternahmen
wilde Autofahrten, gingen abends Hand in Hand an der
Uferpromenade von St. Cyr spazieren, aßen Eiscreme, und
Henri, der in der Küche eines Hotels arbeitete, schwärmte von
dem kleinen Pizzarestaurant, das er eines Tages haben würde.
Er war der Sohn einer Italienerin und hatte seine Ausbildung
zum Koch in Italien absolviert, und mit dem ihm eigenen
Selbstbewußtsein sagte er von sich, er sei der beste Pizzabäcker
weit und breit.
»Du wirst sehen, sie rennen uns das Haus ein. Sie werden
von weit her kommen für meine Pizza. Wir werden den besten
Ruf genießen, und die Leute
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