Die Taeuschung
Perouges? Wo
liegt das? Vermutlich direkt bei Genf.
Sie witterte eine leise Ungereimtheit, und da sie nach jedem
Strohhalm greifen mußte, beschloß sie, die Sache zu
überprüfen.
2
Christopher hatte immer noch Kopfschmerzen, als er seinen
Wagen auf dem Parkplatz von Les Lecques abstellte und
hinüber zu Jacques’ Kneipe ging. Inzwischen war ihm
eingefallen, daß er dort den gestrigen Abend verbracht hatte.
Jacques, der Besitzer, mochte ihn, wußte, wann er reden wollte,
und war feinfühlig genug, zu schweigen, wenn ihn seine
Depressionen wieder einmal gepackt hatten.
Es regnete nicht, aber schwere Wolken hingen tief über dem
Meer und bewegten sich nicht in der windstillen Luft.
Ein kräftiger Westwind, dachte Christopher, und wir hätten
strahlendes Spätsommerwetter.
Aber er glaubte nicht, daß es dazu kommen würde. Das
Wetter würde grau und öde bleiben.
Ein paar Männer saßen um einen runden Tisch und spielten
Karten, tranken Kaffee und trotz der frühen Stunde den
obligatorischen Pastis. Sie schauten nur kurz auf, als
Christopher hereinkam, murmelten einen Gruß und vertieften
sich wieder in ihr Spiel.
Christopher setzte sich auf seinen Stammplatz, einen Tisch
am Fenster, von dem aus er einen schönen Blick über die
Schiffe im Hafen und direkt auf die ecole de volle hatte, auf
das flache Gebäude, in dem die Segelschule untergebracht war.
Jacques, der Betreiber der Kneipe, der mit seinem kleinen
Schnurrbart und den ewig fettigen Haaren wie das Klischee
eines südfranzösischen Ganoven aus einem Gangsterfilm
aussah, steuerte sofort auf ihn zu.
»Gott sei Dank, du bist in Ordnung! Ich sah dich schon um
einen Baum gewickelt oder im Meer ertrunken. Du hättest
Samstag nacht auf keinen Fall mehr Auto fahren dürfen!«
»Warum hast du mich nicht gehindert?«
Jacques fuchtelte aufgeregt mit beiden Armen. Er redete
immer gern mit Händen und Füßen, was ihn leicht unehrlich
wirken ließ.
»Du hättest dich erleben müssen! Wir haben alle hier auf
dich eingeredet! Du bist richtig aggressiv geworden, hast
herumgeschrien, es sei deine Sache, ob du Auto fährst oder
nicht, ob du einen Unfall baust oder nicht. Ich wollte dir den
Schlüssel abnehmen, da hast du mich geohrfeigt!« Jacques
wies anklagend auf seine linke Wange. »Was sollte ich da noch
machen? Auch die anderen Gäste meinten, dann müßte man
dich eben gewähren lassen.«
Christopher begann sich ganz dunkel zu erinnern.
»Gott«, sagte er, »ich habe dich geohrfeigt? Das tut mir leid,
ehrlich.«
»Schon gut«, meinte Jacques großmütig, »einem alten
Freund verzeiht man manches.«
»Es ist ein Wunder, daß ich bis nach Hause gekommen bin.«
»Das ist es in der Tat. Du solltest deinem Schutzengel
danken.«
»Wirklich? Ich bin nicht sicher. Du weißt, ich hänge nicht
besonders am Leben.«
»Jeder hängt am Leben«, sagte Jacques, »das ist automatisch
so. Man weiß es nur nicht immer. Du würdest kämpfen wie ein
Löwe, wenn dir plötzlich jemand ans Leben wollte.«
»Nein. Ich würde ihm sagen, er soll es kurz und schmerzlos
machen, aber er soll nicht abspringen.«
Jacques seufzte leise. Er kannte diese düsteren Stimmungen
bei Christopher, er erlag ihnen regelmäßig. Dann redete er
davon, sterben zu wollen, die Sinnlosigkeit seines Daseins
nicht mehr ertragen zu können. Oft war er davongegangen mit
der Ankündigung, nun seinem Leben ein Ende setzen zu
wollen. Niemand nahm ihn mehr wirklich ernst, doch
manchmal dachte Jacques: Eines Tages tut er es. Gerade weil
niemand mehr daran glaubt. Er tut es einfach, um es allen zu
zeigen.
Christophers Depression hatte an einem Septembertag vor
sechs Jahren begonnen, als er von einem Sonntagsausflug mit
seinem Segelboot abends zurückgekommen war und oben in
La Cadiére ein leeres Haus vorgefunden hatte. Auf dem
Küchentisch einen Zettel, auf dem ihm seine Frau mitteilte, sie
kehre mit den Kindern für immer nach Deutschland zurück und
werde überdies die Scheidung einreichen. Christopher hatte
gewußt, wieviel Unzufriedenheit und Aggression in seiner Ehe
seit langem schwelten, hatte jedoch nicht damit gerechnet, daß
seine Frau die Drohung, alles zu beenden, wirklich wahr
machen könnte.
Die Familie war alles für ihn gewesen: Mittelpunkt,
Lebensinhalt, Sinn und Zukunft.
Er stürzte in einen tiefen Abgrund.
Niemand wartete mehr mit einem Essen auf ihn, wenn er
nach Hause kam, niemand wärmte sein Bett am Abend. Im
Sommer konnte er nicht mehr mit den
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