Die Taeuschung
Wetterbesserung in Sicht.
Sie fuhr mit dem Fahrrad und merkte recht bald, daß es ein
Fehler gewesen war, sich darauf einzulassen. Schon nach
einem Kilometer ging es ihr viel schlechter, und als sie in den
schmalen Feldweg einbog, der gewissermaßen die Auffahrt zu
Madame Raymonds Haus darstellte, tobten die Schmerzen
hinter ihrer Stirn, und sie hatte zudem den Eindruck, daß ihr
Fieber noch einmal stieg. Wahrscheinlich war sie bis zum
Abend erneut schwer krank und würde wieder nicht zur Arbeit
gehen können. Monique arbeitete als Sekretärin bei einem
Makler. Mit dem Putzen und Warten von Ferienhäusern
verdiente sie sich etwas hinzu, denn die einzige Freude in
ihrem recht einsamen Single-Dasein bestand in einer
alljährlichen großen Ferienreise in ein weit entferntes Land.
Das kostete eine Menge Geld, und dafür schuftete Monique
selbst an den Wochenenden – oder an Tagen wie diesem, an
denen sie eigentlich noch krank geschrieben war. In diesem
Jahr war sie in Kanada gewesen. Im nächsten Jahr wollte sie
nach Neuseeland.
Im Hof, der gepflastert war und voller Olivenbäume stand,
sprang sie vom Rad. Hoffentlich ist niemand eingebrochen,
dachte sie, das würde eine Menge Ärger bedeuten für mich.
Das Haus lag friedlich und still unter dem immer bleierner
werdenden Himmel, und es sah nicht so aus, als sei ihm an
irgendeiner Stelle Gewalt angetan worden.
Obwohl der Tag nicht kalt war, fror Monique plötzlich, und
sie vermutete, daß das am Fieber lag.
Als sie die Haustür aufschloß, prallte sie zurück vor einem
widerwärtigen Gestank, der ihr aufdringlich entgegenschlug
und ihr fast den Atem nahm.
O Gott, dachte sie entsetzt, irgend etwas verwest hier.
Madame mußte – in der Annahme, Monique werde sich
unverzüglich um alles kümmern – verderbliche Lebensmittel
offen in der Küche liegengelassen haben. Die spätsommerliche
Hitze der letzten Woche hatte dann ganze Arbeit geleistet.
Monique sah vergammeltes Fleisch vor sich, auf dem es
wimmelte von Maden und Würmern, und sie fand, daß ihr
Nebenjob manchmal einfach nur hassenswert war.
Immerhin schien es ihr nun ziemlich klar zu sein, daß
Madame Raymond aus irgendeinem Grund keine ihrer
Nachrichten erhalten hatte, und es tröstete sie, daß es nicht
mangelndes Interesse gewesen war, weshalb sich Madame
nicht nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Sondern eine
schlichte Panne in der Nachrichtenübermittlung.
Monique ging den schmalen Flur entlang, wo der Gestank
zunahm und ihr beinahe den Magen hob. Wahrscheinlich quoll
der Mülleimer über. Etwas so Entsetzliches hatte sie noch nie
gerochen. Ihr brach kalter Schweiß aus, und diesmal war sie
nicht sicher, ob es von der Grippe kam. Der Gestank hatte
etwas zutiefst Beunruhigendes, es schwang etwas darin, was
sie frieren ließ und ihr ein eigentümliches Kribbeln auf der
Kopfhaut verursachte. Sie empfand eine Art von instinktivem
Grauen.
Ich bin krank, das ist alles, sagte sie sich und konnte es nicht
wirklich glauben.
In der Küche tickte eine Uhr, und eine Fliege summte
zwischen den Wänden, aber es konnte keine Rede sein von
verwesenden Fleischbergen. Auf der Spüle stand sauberes
Geschirr im Abtropfsieb, der Mülleimer war fest verschlossen.
In einer Schale auf dem Fensterbrett faulte Obst, aber Monique
mußte die blitzartige Hoffnung, hier sei die Quelle für den
seltsam süßlichen Gestank zu finden, sofort wieder
fallenlassen. Das Obst roch nur ganz leicht, und man mußte
dicht herangehen. Der Gestank kam überhaupt nicht aus der
Küche! Er kam aus dem hinteren Teil des Hauses, von dort, wo
die Schlafzimmer lagen.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Auf einmal begriff sie,
welche instinktive Reaktion in ihr vorging. Es war wie das
Schreien der Tiere, wenn sie den Schlachthof rochen.
Sie atmete den Tod.
Ihr Verstand arbeitete sofort dagegen. Es war absurd. Am
hellichten Tag in einem idyllischen Ferienhaus der Provence
roch man nicht den Tod – und wie roch der überhaupt? Es gab
eine Erklärung für den mörderischen Gestank, eine simple
Erklärung, und die würde sie jetzt herausfinden. Auf der Stelle.
Sie marschierte den Gang entlang, öffnete die Glastür, die
den Wohn- vom Schlafbereich trennte, und trat in Madame
Raymonds Schlafzimmer, wo diese unterhalb des Fensters lag,
bekleidet mit den Fetzen ihres Nachthemds. Um ihren Hals lag
ein kurzer Strick, die Augen quollen aus den Höhlen, und die
Zunge stand schwarz und steif aus dem Mund. Über
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