Die Taeuschung
die
Fensterbank verteilte sich etwas, das wie Erbrochenes aussah.
Monique starrte ungläubig auf das Bild, das sich ihr bot, und
bemühte auf eine absurde Weise noch immer ihren Verstand
um eine vernünftige Erklärung.
Dann schoß es ihr durch den Kopf: Bernadette! Und sie
stürzte ins Nebenzimmer, um nach Madame Raymonds
vierjähriger Tochter zu sehen. Die Kleine lag in ihrem
Kinderbettchen. Man war mit dem Kind in dergleichen Weise
verfahren wie mit der Mutter, aber offenbar hatte es
geschlafen, als der Mörder kam. Es war – hoffentlich – nicht
aufgewacht, ehe man begonnen hatte, ihm den Hals
abzuschnüren.
»Ich muß überlegen, was ich als nächstes tue«, sagte
Monique laut. Der Schock bildete noch immer eine Barriere
zwischen ihr und dem furchtbaren Anblick und verhinderte,
daß sie schrie oder in Ohnmacht fiel.
Sie verließ das Zimmer, ging auf unsicheren Beinen in die
Küche, setzte sich auf einen Stuhl. Die Uhr schien noch lauter
zu ticken als zuvor, sie dröhnte förmlich, und auch das
Brummen der Fliege hatte sich verstärkt, schwoll mit jeder
Sekunde an. Monique starrte auf das faulende Obst, Äpfel und
Bananen waren es, die bereits matschig wurden, und sie konnte
bräunliches, zerlaufendes Fruchtfleisch sehen. Bräunliches,
zerlaufendes Fleisch ...
Das Ticken der Uhr und das Brummen der Fliege
verdichteten sich gemeinsam zum ohrenbetäubenden Dröhnen.
Die Lautstärke schmerzte in Moniques Ohren, wurde
unerträglich, drang in ihren Kopf und drohte ihn zum Platzen
zu bringen. Sie wunderte sich, daß die Fensterscheiben nicht
zersprangen. Wunderte sich, daß die Wände nicht wankten.
Daß die Welt nicht unterging, obwohl das Schlimmste
geschehen war.
Sie begann zu schreien.
6
Sie hatte nicht ein einziges Mal Rast gemacht. Neben ihr auf
dem Beifahrersitz hatte die ganze Zeit über eine Flasche
Mineralwasser gelegen, aus der sie immer wieder einen
Schluck nahm, bis sie leer war. Seltsamerweise mußte sie kein
einziges Mal auf die Toilette, erst als sie auf dem Pas
d’Ouilliers aus dem Wagen stieg, merkte sie, daß sie sich
dringend erleichtern mußte. Sie kauerte sich hinter einen
Busch, wobei sie auch registrierte, wie steif sie vom langen
Sitzen geworden war; sie bewegte sich wie eine alte Frau.
Schließlich trat sie an einen der Picknicktische und schaute
hinunter auf die tausend blitzenden Lichter der Bucht von
Cassis.
Es war fast halb elf, die Nacht war kühl und bewölkt, und
hier oben wehte ein Wind, der einen frösteln ließ. Sie hätte ihre
Jacke anziehen sollen, aber sie wollte ohnehin nur einen
Moment bleiben. Von diesem Ort aus hatte Peter sie zum
letzten Mal angerufen. Hier riß der Faden. Hier hatte er vor
zwei Tagen – waren es wirklich erst zwei Tage? – gestanden
und auf dieselbe Bucht, dasselbe Meer geblickt wie sie jetzt.
Wenn es stimmte. Wenn er überhaupt hier gewesen war. Seit
dem Zusammenbruch ihrer Welt schien es kaum mehr etwas zu
geben, was sie noch glauben konnte, aber nachdem Henri Joly
bestätigt hatte, daß Peter im Chez Nadine gewesen war, sprach
manches dafür, daß er zuvor den Pas aufgesucht hatte.
Irgendwo mußte er gehalten haben, um zu telefonieren – Peter
telefonierte nie beim Fahren – und warum dann nicht hier? Den
Ort konnte er zumindest fast automatisch angefahren haben.
Hier hatten sie jedesmal gestanden und den ersten Blick auf das
Meer genossen. Ob es ihm das gleiche bedeutet hatte wie ihr –
ein liebgewordenes Ritual, das nur sie beide miteinander
teilten?
Nach allem, was geschehen war, erschien es ihr zweifelhaft.
Wenn er mich geliebt hätte, dachte sie und atmete tief die
Luft, die soviel weicher war als daheim, hätte es für ihn kein
Wochenende mit einer anderen Frau gegeben.
Und vermutlich waren es viele Wochenenden gewesen. Oder
heimliche Mittagsstunden, falls sie in Frankfurt wohnte oder
häufig dort war. Oder Geschäftsreisen. Wie lange ging das
schon? Weshalb hatte sie nichts bemerkt? Aber schließlich
waren auch seine abenteuerlichen Spekulationen und
Investitionen völlig an ihr vorübergegangen.
Sie überlegte, wie es in der letzten Zeit mit Geld bei ihr
ausgesehen hatte: Größere Rechnungen hatte sie sowieso
immer an Peter weitergegeben, und vermutlich hatte er sie
häufig nicht bezahlt. Für den eigenen Bedarf verfügte sie über
ein kleines Konto, auf das Peter in unregelmäßigen Abständen
Geld überwies. Schon seit längerer Zeit war nichts mehr
eingegangen,
Weitere Kostenlose Bücher