Die Taeuschung
überflüssig und sinnlos vor.
»Natürlich kannst du Spazierengehen, wann immer du
möchtest«, sagte Henri sanft.
»Danke«, erwiderte Nadine.
»Kann ich heute mittag mit dir rechnen? Hilfst du mir?«
»Warum fragst du nicht deine geliebte Cathérine?«
»Ich frage dich.«
»Ich bin spätestens um elf zurück. Reicht das?«
»Natürlich.« Diesmal setzte er hinzu: »Danke.«
Sie verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.
2
Cathérine betrachtete sich kritisch im Spiegel. Der Höhepunkt
der Akneattacke vom Samstag war vorüber, die Pusteln
begannen zu verschorfen. Sie sah schlimm aus, jedoch nicht
mehr so schlimm. Mit einer Menge Make-up und einer Menge
Mühe könnte sie ...
Der Gedanke rief eine unangenehme Erinnerung in ihr wach.
Vor drei Jahren, als sie wieder einmal an einem seelischen
Tiefpunkt angelangt gewesen war und gemeint hatte, die
ständige Einsamkeit nicht mehr zu ertragen und noch weniger
die Aussicht auf ein lebenslanges Alleinsein, hatte sie auf eine
Kontaktanzeige in der Zeitung geantwortet. Der Text hatte ihr
gefallen; der Mann hatte geschrieben, er sei nicht besonders
gutaussehend und suche auch keine Schönheit, sondern eine
Frau mit Herz und Sinn für Romantik. Er habe einige
Enttäuschungen erlebt und wisse es zu schätzen, wenn eine
Frau in erster Linie aufrichtig und treu sei.
Cathérine schien es, daß sie alle Kriterien erfüllte: Sie war,
weiß Gott, keine Schönheit, hatte dafür Herz und – wenn auch
inzwischen ziemlich verschüttet hinter Verbitterung und
Vergeblichkeit – einen Sinn für Romantik. Für ihre Treue und
Aufrichtigkeit konnte sie garantieren – welchen Versuchungen
sollte eine Frau wie sie auch ausgesetzt sein?
Sie schrieb ihm unter einer Chiffre-Nummer, legte dem Brief
aber kein Photo bei, sie behauptete, im Augenblick keine
aktuelle Aufnahme von sich zu haben und sich nicht mittels
eines älteren Bildes jünger machen zu wollen, als sie war. Ein
geschickter Schachzug, wie sie fand, denn er ließ sie sehr
ehrlich erscheinen.
Zwei Abende später rief der Mann sie an.
Am selben Tag hatte sie nach einer erstaunlich langen – zu langen – Phase der Ruhe wieder einen Anfall erlitten. Die
Akne überschwemmte sie mit besonderer Heftigkeit, auch über
den Hals bis zum Bauch hinunter und über den Rücken. Sie sah
aus wie ein Monster.
»Ich wohne in Toulon«, sagte der Mann, der sich als
Stephane Matthieu vorgestellt hatte, »also nicht weit von
Ihnen. Wir könnten uns morgen abend treffen.«
Das ging natürlich unter keinen Umständen. Sie mußte
unbedingt ein paar Tage Zeit herausschinden.
»Ich muß morgen früh aufbrechen zu einer alten Tante in der
Normandie«, log sie. »Sie ist krank geworden, und ich bin die
einzige Verwandte, die sie noch hat.«
»Das tut mir leid«, sagte Stephane, »wie nett von Ihnen, sich
so um sie zu sorgen.«
»Das ist für mich selbstverständlich«, erwiderte Cathérine.
Ihr Gesicht brannte wie Feuer. Sie brauchte ihre ganze
Willenskraft, sich nicht zu kratzen.
»Das ist ein schöner Zug«, sagte Stephane, »die meisten
jungen Frauen heutzutage haben nur ihr Vergnügen im Kopf.
Diskos, teure Klamotten, schnelle Autos ... Die Männer sollen
attraktiv sein und viel Geld verdienen. Das ist alles, worauf es
ihnen ankommt.«
»Wissen Sie«, meinte Cathérine, all ihren Mut
zusammennehmend, »ich bin nicht besonders hübsch. Aber ich
weiß, worauf es ankommt im Leben. Ich meine, ich weiß,
welche Werte Bestand haben und welche nicht.«
»Ich denke, wir werden uns sehr interessant unterhalten«,
schloß Stephane. »Rufen Sie mich an, wenn Sie von Ihrer
Tante zurück sind?«
Sie rief nach drei Tagen an; ihr Gesicht hatte sich erholt.
Lieber hätte sie noch ein wenig gewartet, aber sie vermutete,
daß er mehrere Zuschriften bekommen hatte, und befürchtete,
er werde sich mit einer anderen Frau treffen und ihr vom
Haken springen.
Sie hatte schon mittags begonnen, sich für das Treffen am
Abend zurechtzumachen. Zum Glück war es November
gewesen, und es wurde sehr früh dunkel. Sie hatte ein
Fischrestaurant in Cassis ausgewählt, von dem sie wußte, daß
dort abends nur Kerzen brannten. Kerzenlicht war günstig für
sie. Sie hatte spachteldick Make-up und Puder aufgetragen. Bei
der entsprechenden Beleuchtung mochte ihre Haut
einigermaßen passabel aussehen.
Stephane war nicht gerade begeistert von ihr, das merkte sie
sofort. Natürlich war sie einfach zu dick, und das vermochte
auch das
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