Die Taeuschung
nichts.
Cathérine stocherte in ihrem Essen herum, entschuldigte sich
irgendwann und floh auf die Toilette. Dort preßte sie ihr
Gesicht gegen die kalten Kacheln an der Wand und sagte leise:
»Ich hasse dich, lieber Gott. Ich hasse dich für deine
Grausamkeit und für deine Willkür und dafür, daß du mich für
den Mut, den ich aufbringen mußte, so hart bestrafst.«
Nach einer Weile kehrte sie in den Speiseraum zurück.
Stephane war verschwunden, und im ersten Moment dachte sie,
er sei auch auf der Toilette. Aber die Kellner räumten bereits
den Tisch ab, und einer erklärte Cathérine, der Herr habe
bezahlt und sei dann gegangen.
Sie glaubte, sie würde ihn nie wiedersehen, und sie wollte es
auch nicht. In dem Restaurant vor den Kellnern zu stehen war
der demütigendste Moment ihres Lebens gewesen, und alles,
worauf sie hoffte, war, ihn irgendwann vergessen zu können.
Natürlich gelang ihr das nicht. Immer wieder erstand die
Situation vor ihren Augen, immer wieder durchlebte sie die
brennende Scham. Eine Veränderung ging danach mit ihr vor:
Mit der Hoffnung auf ein Stück Lebensglück waren auch die
letzte Weichheit, die letzte Versöhnungsbereitschaft mit dem
Schicksal in ihr gestorben. Haß und Verbitterung bestimmten
von da an ihr Wesen.
Und dann, ein halbes Jahr war es nun her, hatte sie Stephane
wieder getroffen. In St. Cyr war es gewesen, auf der Bank, zu
der sie für Henri einen Scheck brachte. Man hatte Stephane
dorthin versetzt, und unvermittelt hatte er ihr auf der anderen
Seite des Schalters gegenübergestanden.
Er war noch feister geworden und noch selbstzufriedener. Er
erschrak, als er sie sah, faßte sich aber rasch.
»Cathérine! Wie nett, dich zu sehen! Wie geht es dir?«
»Gut. Sehr gut.« Sie hatte der Versuchung nicht widerstehen
können. »Ich habe geheiratet inzwischen. Wir sind sehr
glücklich.«
»Wie schön für dich!« Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er
sich fragte, wer wohl der arme Trottel sein könnte, dem dieser
Mißgriff passiert war. »Stell dir vor, auch ich bin verheiratet!
Wir leben in La Cadiére. So findet jeder Topf seinen Deckel,
nicht wahr?«
Sie stellte Nachforschungen an und fand heraus, daß er tatsächlich nicht gelogen hatte. Es gab eine Madame Matthieu
in seinem Haus, eine fade, langweilige Person, die aber bei all
ihrer Graumäusigkeit weitaus ansehnlicher war als Cathérine.
Sie begann sie zu hassen, nicht so sehr, wie sie Nadine haßte,
aber doch mit einer Heftigkeit, die sie selbst manchmal
überraschte, da Stephane schließlich kein Traummann und die
graue Maus eigentlich bemitleidenswert war. Darüber hinaus
haßte sie alle glücklichen Paare, vor allem glückliche Frauen,
und sie fand, daß sie allesamt eine tiefe Selbstgerechtigkeit
ausstrahlten.
Heute, an diesem Oktobermorgen, fühlte sie sich jener
ohnmächtigen Wut, die immer wieder neu in ihr geboren
wurde, besonders heftig ausgeliefert. Sie starrte ihr Spiegelbild
an, dachte an Stephane und Madame Matthieu und an Henri
und Nadine.
»Warum hat Henri denn immer noch nicht genug von ihr?«
fragte sie leise und verzweifelt. »Was muß sie noch alles tun,
damit er aufhört, sie zu lieben?«
3
Christopher ging am Strand von St. Cyr entlang. Ein windiger,
kühler Tag. Der Wind hatte auf Nordwest gedreht, das Meer
war bewegt, auf den Wellen tanzten weiße Schaumkronen. Er
trug eine warme Jacke, hatte aber inzwischen Schuhe und
Strümpfe ausgezogen und die Uferpromenade verlassen, er
stapfte jetzt durch den schweren, feuchten Sand gleich am
Wasser. Es waren nicht viele Leute unterwegs, ältere
Menschen zumeist, die außerhalb der Feriensaison an die Côte
kommen konnten. Einige waren tief gebräunt von den letzten
hochsommerlich heißen Septemberwochen. Viele hatten Hunde
dabei, große und kleine, die übermütig über den Strand tollten,
in die Wellen sprangen und laut bellend wieder flüchteten. Er
sah eine Familie, die es sich, dem Herbst trotzend, am Strand
bequem machte; sie hatte im Windschutz des Mäuerchens
unterhalb der Promenade eine Decke im Sand ausgebreitet und
hatte sich dort hingesetzt. Die Mutter, die ein wenig erschöpft
wirkte, hielt die Augen geschlossen und den Kopf an die
Mauer gelehnt. Zwei kleine Kinder, zwischen einem und drei
Jahren alt, spielten neben ihren Füßen mit Plastikautos. Der
Vater war mit den beiden größeren Kindern ans Wasser
gegangen; barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen
standen sie dort im
Weitere Kostenlose Bücher