Die Taeuschung
Kinder!«
»Gerade an sie denke ich. Kinder sollten nicht in einer
zerrütteten Familie aufwachsen. Zwischen uns ist zuviel
zerbrochen, Christopher.«
»Was denn?« Er verstand sie wirklich nicht. Was meinte sie?
Es hatte Mißstimmungen zwischen ihnen gegeben, aber in
welcher Partnerschaft gab es die nicht? Er hätte früher
erkennen müssen, wie ungern sie in Frankreich lebte, er hätte
früher merken müssen, daß sie sehr unglücklich war. Obwohl
längst klar war, daß die Gründe für das Scheitern ihrer Ehe auf
einer ganz anderen Ebene lagen, hielt er sich beharrlich an dem
Problem des Wohnortes fest; vermutlich deshalb, weil er genau
wußte, daß hier Abhilfe zu schaffen war. Sich selbst und seine
Neigung, grenzenlos aufzugehen in seiner Familie, vermochte
er nicht zu ändern.
Dann war Carolin gegangen, und mit ihr die Kinder und
Boxerhündin Baguette, und die Scheidung war schnell und
glatt über die Bühne gegangen; er hatte die Kraft nicht mehr
aufgebracht, sich dagegen zu wehren, und wohl auch begriffen,
daß es sinnlos gewesen wäre.
Nun schaute er sich die Familie an, die sich dort vor ihm
über den Strand verteilt hatte, und versuchte zu ergründen, ob
sie bereits die verräterischen Anzeichen des
Auseinanderbrechens zeigte. Es gab da bestimmte Signale, und
er kannte sie, er kannte sie nur zu gut.
Aber diese Familie erschien intakt. Der Mann rief den
Namen der Frau, sie öffnete die Augen und lächelte. Das
Lächeln wirkte nicht aufgesetzt, es war warm und glücklich.
Die Kinder hatten sich darangemacht, eine Sandburg mit
komplizierten Kanalsystemen am Ufer zu bauen, und darauf
hatte er die Mutter aufmerksam machen wollen. Sie winkte den
beiden zu und schloß dann wieder die Augen, suchte eine
behaglichere Position an der Mauer zu finden.
Alles in Ordnung. Dies zu sehen gab Christopher ein warmes
Gefühl. Neid kannte er nicht. Aber Sehnsucht. Eine sehr starke,
sehr tiefe Sehnsucht, die fast so alt war wie er selbst. Die an
dem Tag geboren worden war, als seine Mutter fortging.
Eilig setzte er seinen Weg fort.
4
Um zehn Uhr hielt Laura vor dem Chez Nadine an und stieg
aus dem Wagen. Zum erstenmal seit dem vergangenen
Samstag hatte sie in der letzten Nacht wieder Schlaf gefunden.
Ihr waren viele Gedanken im Kopf herumgegangen, aber
irgendwann war sie weggedämmert und erst um acht Uhr am
Morgen wieder erwacht.
Da sie nichts im Haus hatte, fuhr sie nach St. Cyr hinein und
setzte sich, tief in eine warme Jacke gekuschelt, vor das Cafe
Paris, bestellte einen cafe creme und Baguette mit Marmelade.
Im Cafe Paris zu frühstücken war ebenfalls eine alte
Gewohnheit von ihr und Peter, sie hatten oft in den weichen,
von der Sonne ausgeblichenen grünen Kissen der Korbstühle
gesessen und den Hunden zugesehen, die über den Marktplatz
trabten, die Menschen beobachtet, die nebenan beim Friseur
ein und aus gingen, und in die Blätter der Bäume geblinzelt.
Ein wenig hatte sie gehofft, ihn hier schon zu treffen, aber sie
konnte ihn nirgends entdecken, und vielleicht wäre dies auch
zu schnell gegangen.
Sie war zuversichtlich, daß sie Peter finden würde, und auch
wenn dann manches Unangenehme zwischen ihnen geklärt
werden mußte, so bestand doch noch kein Grund zu glauben,
daß auf einmal alles aus sein könnte.
Im Chez Nadine saß noch kein Gast. Sie hörte jemanden in
der Küche und rief: »Nadine? Henri?«
Einen Moment später kam Henri in den Speiseraum. Sie
erschrak ein wenig, weil er so schlecht aussah. Er war
braungebrannt und schön wie immer, aber es lagen Schatten
unter seinen Augen, seine Bewegungen hatten etwas Fahriges,
Nervöses, und es lag ein Ausdruck von Schmerz und tiefem
Kummer über seinem Gesicht, wie sie ihn an Henri, dem ewig
lächelnden, sonnigen Beau, noch nie gesehen hatte. Er schien
sehr hoffnungslos.
»Laura!« sagte er erstaunt. Er trug eine große, bunte Schürze
– das einzige, was an ihm fröhlich war – und wischte seine
tomatenverschmierten Hände daran ab. »Wo kommst du denn
her?«
Sie lächelte, leichtherziger, als ihr zumute war. »Da Peter
nicht zu mir kommt, habe ich mich entschlossen, ihn
aufzusuchen. Oder besser: ihn zu suchen. Hat er sich hier noch
einmal blicken lassen?«
»Nein. Wir sind nur am Sonntag auf sein Auto gestoßen. Es
parkt etwa zweihundert Meter weiter am Trafohäuschen.«
» Wie bitte?«
»Na ja, offenbar ist er nicht von hier weggefahren.« »Aber ...
wir sind hier ein ganzes
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