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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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wir rasch sagen, was wir wissen.«
Sie nickte, aber er war nicht sicher, ob sie wirklich begriffen
hatte. Sie starrte wieder auf das Bild, und er hätte ein
Vermögen gegeben, um zu wissen, welcher Film hinter ihrer
Stirn ablief.
Er ließ ihr noch eine Minute, ehe er den nächsten Angriff
startete.
»Bist du sicher, dein Alibi wird einer Überprüfung
standhalten?« fragte er.
Diesmal verstand sie. Sie blickte auf, und zwischen ihren
Augen erschien eine steile Falte.
»Wie bitte?« fragte sie zurück, und er dachte, daß sie
während dieser eigenartigen Konversation hauptsächlich nur
Worte wie Was?, Wie? oder Wie bitte? sagte, während er die
entscheidenden Feststellungen von sich gab.
»Na ja, ich möchte dich nur darauf hinweisen, daß es einen
Unterschied macht, ob du mich anlügst oder die Polizei.«
Er erwartete ein erneutes: Was? oder Wie?, aber zu seiner
Überraschung versuchte sie nicht einmal, die Verwunderte zu
spielen.
Sie fragte zurück: »Seit wann weißt du, daß ich nicht bei
meiner Mutter war?«
»Ich weiß es, seit du mir angekündigt hast, du wolltest zu
ihr.«
»Du hast nichts gesagt.«
Er fühlte, wie seine Überlegenheit bröckelte. Der Triumph,
den ihr Entsetzen ihm bereitet hatte, war nur kurz gewesen.
Traurigkeit und Erschöpfung breiteten sich in ihm aus.
»Was hätte ich denn sagen sollen?« fragte er müde. »Was
hätte ich sagen sollen, um eine ehrliche Antwort zu
bekommen?«
»Ich weiß es nicht. Aber offen zu sein bedeutet häufig, daß
auch der andere sich öffnet.«
Er stützte den Kopf in die Hände. Offenheit ... Wie oft in den
letzten Tagen war ihm der schreckliche letzte Samstag im
Gedächtnis herumgegeistert, und manchmal hatte er auch
gedacht, daß ein anderer Mann als er viel besser mit der
Situation umgegangen wäre. Warum hatte er Nadine nicht zur
Rede gestellt? Warum hatte er nicht mit der Faust auf den
Tisch geschlagen? Und das nicht erst am Samstag, sondern
schon viel früher, irgendwann während jener langen, quälenden
Jahre, in denen er gefühlt hatte, wie er sie mehr und mehr
verlor, und in denen dieses fürchterliche Schweigen zwischen
ihnen geherrscht hatte, das so viel schlimmer gewesen war als
die Streitereien ihrer ersten Jahre. Weshalb hatten sie nie ein
klärendes Gespräch geführt?
Es hätte von mir ausgehen müssen, dachte er, sie hatte alles
gesagt. Daß sie Le Liouquet haßt und das Chez Nadine. Daß sie
ein Leben führt, wie sie es nicht führen möchte. Daß sie
enttäuscht und frustriert ist. Im Grunde hat sie mir sogar
gesagt, daß sie jede Gelegenheit ergreifen wird, aus diesem
Leben auszubrechen.
»Du wolltest dich am Samstagabend mit Peter treffen«, sagte
er.
Sie nickte. Ihre dunklen Augen, die fassungslos und entsetzt
geblickt hatten, füllten sich mit Trauer.
»Ja«, antwortete sie, »wir wollten zusammen weggehen. Für
immer.«
»Wo hast du auf ihn gewartet?«
»An der Brücke. Der kleinen Brücke, die zwischen La
Cadiére und dem Quartier Colette liegt, wo er sein Haus hat. Er
wollte noch mal dorthin und nachsehen, ob er einige Dinge
mitnehmen könnte. Er meinte erst, ich sollte im Haus direkt auf
ihn warten, aber ich wollte nicht. Zwischen all den Photos von
Laura und dem Baby ... zwischen all den Sachen, die die
beiden zusammen für dieses Haus gekauft haben ... Wir
verabredeten uns also an der Brücke.«
Sie sah sich in ihrem kleinen, grünen Peugeot am
Straßenrand sitzen. Es war dunkel, und der Regen nahm ihr
zusätzlich die Sicht. Immer wieder drehte sie den Schlüssel im
Zündschloß, um die Scheibenwischer anschalten zu können.
Dann spähte sie angestrengt hinaus, ob jemand über die Brücke
kam. Sie hätte das am Aufflammen von Scheinwerfern auch so
sehen können, sie hätte nicht ständig die Scheibe frei wischen
müssen. Aber so konnte sie wenigstens irgend etwas tun und
war nicht zu völliger Passivität verurteilt.
Sie hatte auf der Seite des Quartier Colette geparkt, am Rand
der Felder, an einer Stelle, die auch Peter Platz ließ zum
Anhalten. Sie würde in sein Auto umsteigen und ihres
zurücklassen. Irgendwann würde Henri sie als vermißt melden,
vielleicht schon am nächsten oder übernächsten Tag, und man
würde ihr Auto entdecken. Wahrscheinlich würde man ein
Verbrechen vermuten, und Henri würde mit dem Verdacht
leben müssen, daß seine Frau ermordet und verscharrt worden
war, und mit der Wahrscheinlichkeit, daß der Fall nie geklärt
wurde. Er tat ihr nicht leid

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