Die Taeuschung
deswegen. Sie hatte schon lange
aufgehört, etwas anderes für ihn zu empfinden als Abneigung.
Vielleicht würde ja Marie reden.
Die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl gehabt, sie sollte
niemandem, wirklich niemandem gegenüber auch nur eine
Andeutung über ihr Vorhaben machen. Sie hatte schon zuviel
gehört und gelesen über Pläne, die geplatzt waren, weil irgend
jemand seinen Mund nicht halten konnte. Und dieser Plan war
der wichtigste ihres Lebens. Wenn etwas schiefginge, käme das
einem Selbstmord gleich.
Aber sie hatte eine Mutter.
Wenn sie an niemanden eine Bindung hatte – an Freunde
nicht, an Verwandte nicht, nicht einmal an ihren Vater und
schon überhaupt nicht an Henri –, was ihre Mutter betraf,
konnte sie sich von gewissen Gefühlen nicht freimachen. Die
arme, schwache Marie, die ihr Leben nie wirklich in den Griff
bekommen hatte, die sie dafür gehaßt hatte und vielleicht noch
immer haßte und für die sie dennoch eine widerwillige
Verantwortung empfand. Henri mochte sich für den Rest seines
Lebens quälen im Grübeln über ihr ungeklärtes Schicksal, aber
die Vorstellung, daß auch Marie haderte und weinte und nie
wieder zur Ruhe kam, machte Nadine zu schaffen. Sie hatte
einen Brief geschrieben, in dem sie ihre Mutter bat, sich keine
Sorgen zu machen; es gehe ihr gut, besser als zuvor, sie werde
zusammen mit einem Freund aus Deutschland weggehen und
nie wiederkommen, und Marie möge ihr verzeihen. Sie trug
den Brief in ihrer Handtasche mit sich und wollte ihn am
Flughafen in Nizza kurz vor dem Start ihrer Maschine
einwerfen. Sie hatte Marie in dem Schreiben darum gebeten,
niemandem gegenüber etwas verlauten zu lassen, aber sie
kannte ihre Mutter: Es war eher unwahrscheinlich, daß sie den
Mund halten würde.
Vielleicht würde sie den Brief gar nicht abschicken.
Peter hatte gesagt, er werde zwischen sieben und halb neun
Uhr an der Brücke sein, genauer konnte er sich bei einer Fahrt
von über eintausend Kilometern nicht festlegen. Sie selbst hatte
das Chez Nadine bereits um sechs Uhr verlassen; Henri war für
längere Zeit auf der Toilette verschwunden, und die
Gelegenheit war günstig gewesen, die Koffer aus dem Haus zu
schaffen. Genaugenommen war es die einzige Gelegenheit
gewesen, denn den ganzen Tag über war er immer um sie
gewesen, hatte sie hier gebraucht, da gebraucht, Fragen gehabt,
oder war einfach wie ein Schatten überall dort im Haus
aufgetaucht, wo sie ihn nicht erwartete. Mit Peter hatte sie
vereinbart, daß er sie von unterwegs ab und zu auf ihrem
Handy anrufen sollte, aber dann hatte sie es die ganze Zeit über
ausgeschaltet gehabt, weil ein Anruf wegen Henris ständiger
Präsenz zu gefährlich gewesen wäre. Erst im Auto aktivierte
sie es wieder und hörte ihre Mailbox ab, doch niemand hatte
eine Nachricht hinterlassen; das hätte Peter natürlich nicht
riskiert.
Als sie die Koffer im Auto hatte, war ihre Unruhe so
übermächtig geworden, daß sie es nicht länger daheim aushielt.
Lieber würde sie im Auto warten als dort. Henri war noch
immer hinter der Badezimmertür verschwunden, den
Geräuschen nach zu urteilen, konnte es sein, daß er sich
übergab. Aus einem Pflichtgefühl heraus zögerte sie.
»Ist dir schlecht?« rief sie.
Der Wasserhahn lief. »Es geht schon wieder«, sagte Henri.
Seine Stimme klang matt. »Ich hatte gleich den Eindruck, daß
mit dem Fisch heute mittag etwas nicht stimmte.«
Sie hatte von demselben Fisch gegessen, und ihr war nicht
schlecht, aber darüber mochte sie nicht nachdenken. Sie verließ
das Haus ohne ein weiteres Wort, ohne sich zu verabschieden.
Sie wollte nicht das Risiko eingehen, daß er sie doch noch zum
Bleiben aufforderte. Als sie beim Mittagessen gesagt hatte, sie
werde abends zu ihrer Mutter gehen und dort übernachten,
hatte er überraschenderweise nicht mit seinem üblichen
Gejammere angefangen; genaugenommen hatte er fast gar
nichts gesagt, zunächst nur genickt und dann noch einmal
wiederholt: »Zu deiner Mutter?«
»Sie hat wieder einmal eine depressive Phase. Kein Wunder,
in der Einsamkeit dort. Ich muß mich um sie kümmern.«
Er hatte noch einmal genickt, hatte sich dann wieder seinem
Essen zugewendet, in dem er schon die ganze Zeit über
ziemlich lustlos herumstocherte. Sie war erleichtert gewesen,
wie einfach sie davonkam. Samstag abend herrschte häufig
Hochbetrieb, selbst Anfang Oktober noch, und sie hätte
geschworen, daß er versuchen würde, sie zum
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