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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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schneuzte sich die Nase. »Und wie gehtʼs Lisa?« fragte er gleich darauf mit Wärme in der Stimme. »Ich habʼ sie seit dem Vorfall damals in Warmond nie mehr gesehen. Gehtʼs ihr gut?«
    Mijnheer Tiennoppen setzte sich aufrecht. »Lisa ist vergangenen Freitag unter furchtbaren Schmerzen gestorben«, sagte er langsam und mit Nachdruck. »Ich bin gerade auf dem Weg zu ihrer Beerdigung.«
    Langsam wurde der Student zum Affen. Sein Mund verzog sich zu den Ohren, und seine Augen begannen hervorzuquellen, während seine Hände abwehrend in der Luft herumfuchtelten. Als Mijnheer Tiennoppen das sah, nahm er seinen Hut aus dem Gepäcknetz und verließ würdig das Abteil.
    Na also, dachte er auf dem Gang, das wärʼs für den Herrn Studenten. Wer ist der nächste?
    Ein kleiner Mann. Eine Entschuldigung murmelnd ging er vorbei, Mijnheer Tiennoppen kurz und abwesend musternd. »Na, Hendriksen«, sagte er im Vorübergehen, »alles in Butter?« Er sah übermüdet aus. Man sollte ihn nicht enttäuschen.
    »Tipptopp in Ordnung«, sagte Mijnheer Tiennoppen. »Und du? Auch wieder in Schwung?«
    »Noch ʼn bißchen schlapp«, sagte der Mann, an der Abteiltür rumfummelnd, »aber ich darf wieder alles essen. Nimmʼs mir nicht übel, aber ich habe Anni bei mir. Also … du verstehst doch?«
    »Und ob.«
    »Grüß Martha von mir.«
    »Tu ich. Laß ʼs dir gutgehen, altes Haus.« Mijnheer Tiennoppen zog eine Grimasse, auf Anni anspielend, woraufhin der Mann mit einem Grinsen im Abteil verschwand.
    Lächelnd stellte sich Mijnheer Tiennoppen ans Fenster und sah sich die rotierende Weltscheibe an. Am Horizont drehte sie sich mit, während sie sich dicht bei ihm in entgegengesetzter Richtung bewegte. Sie suchte sich einen Mittelpunkt und fand ihn in einem entfernten Mann, der gerade eine Kuh molk. Das ist wohl sicher, daß ich dem auch aufs Haar gleiche, dachte Mijnheer Tiennoppen und lächelte.
    Eine Viertelstunde später stieg er aus und lief eilig die Bahnsteigtreppe hinunter. Die Schlange vor der Sperre kam nicht recht voran, weil sie von einem Reisenden aufgehalten wurde, der seine Fahrkarte nicht finden konnte und sich nun zu entkleiden begann. Gerade als Mijnheer Tiennoppen sich zu einer anderen Sperre begeben wollte, sah er, daß die Frau, die neben ihm stand, ihren Mund seitwärts verzog und flüsterte: »Tu so, als ob du mich nicht kennst.«
    Mijnheer Tiennoppen sah sie kurz an (sie war eine ansprechende junge Frau) und nickte dann beinahe unmerklich, während er geradeaus blickte.
    »Mein Mann …«, flüsterte die Frau. »Da hinten steht er und wartet auf mich.«
    Mijnheer Tiennoppen sah zu dem mageren Mann hinüber, auf den sie mit einem Kopfnicken hingewiesen hatte, und spitzte die Lippen. Dann verzog er in der gleichen Manier wie sie den Mund und zischte: »Liebst du mich noch?«
    Bei dem Blick, den sie ihm zuwarf, brach ihm glatt der Schweiß aus. »Oh, Schatz … Schatz …«, flüsterte er.
    Die Schlange kam in Bewegung, und Mijnheer Tiennoppen fühlte, wie ihre Hand verstohlen die seine drückte. Ihn schwindelte. Gleich darauf hing sie am Hals des Mageren und küßte ihn.
    Mit gebeugtem Haupt betrat Mijnheer Tiennoppen die Stadt. Er begriff, daß er eine Geliebte verloren hatte. Sie saß mit ihrem Mann in einer Straßenbahn oder einem Taxi und fuhr aus seinem Leben. Morgen würde sie ihn schon nicht mehr erkennen.
    Hier bin ich also, dachte Mijnheer Tiennoppen. Wer bin ich? Ihm fiel auf, daß immer mehr Unbekannte ihn grüßten: Manchmal von oben herab, wie es Vorgesetzte tun – manchmal auch eifrig und höflich, wie Untergebene. Um ja nicht Verwirrung oder Unheil in die Gesellschaft hineinzutragen, versuchte er schnell, seine Haltung der jeweiligen Situation anzupassen, was ihn sehr ermüdete.
    Grübelnd über die schier untragbare Verantwortung seiner Existenz und gerade seine Beine von einem »Onkel!« rufenden Knaben befreiend, sah er auf der anderen Straßenseite einen wie angewurzelt und ihn fieberhaft ansehenden Mann stehen. Mijnheer Tiennoppen bekam es mit der Angst zu tun und versuchte zu entkommen. Schnell lief er zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, aber der Mann stand bereits vor ihm. Sein Gesicht war schweißnaß.
    »Bottinelli!« flüsterte er bebend. »Mein Gott … Du bist zurück?«
    Mijnheer Tiennoppen nickte langsam und drohend. »Ja«, sagte er unheildrohend, »ja, ich bin wieder hier.«
    Der Mann wankte und suchte einen Halt. »Und ich dachte …«
    »Du denkst immer noch?« fragte Mijnheer

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