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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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mehrere hundert Male, seit jenem Tag, an dem sich die Götter den Menschen zum ersten Mal gezeigt hatten.
    Die Riesenbrenner mit ihrem göttlichen Weihrauch standen bereit; enorme Kessel mit einem Durchmesser von zweihundert Metern, aufgebaut auf den höchsten Berggipfeln. Tausende Tonnen Räucherstoffe waren darin gestapelt worden, um durch die aufsteigenden Düfte die Götter nachsichtig zu stimmen und ihnen deutlich zu machen, daß die Menschheit bereit war, an diesem erneuten Wunder teilzunehmen und ihnen für die herrliche, unvergeßliche Pracht des Wunders zu danken. Zu danken für die himmlische Schönheit, die angenehm und froh über die armselige Welt ausgegossen wurde.
    Innerhalb einer halben Stunde sollte das Wunder endgültig seinen Anfang nehmen. Die Magier saßen bereits in ihren Gebetstürmen und sangen. Sprachen in inniger Verbundenheit mit den Stimmen der niederknienden Menschen und Halbmenschen die traditionellen Loblieder und Dankgebete. Gebete von Ehrfurcht und Treue, von Erwartung und Demut. Danach begannen die Choräle, eine harmonische Einheit aus abertausend Kehlen, Harmonie im gleichen Rhythmus, ein hoher, sanfter Geigenklang im Wind. Es war wie eine Stimme, großartig und ehrfurchterweckend, und doch vermischt mit vager Angst und Nichtbegreifen, die Stimme des Volkes, die Stimme der Welt.
    Die Könige knieten in ihren kostbaren Betsesseln, bekleidet mit goldenen Gewändern. Die kaʼsgi -Magier lagen zu ihren Füßen auf den Bäuchen im Staub und krümmten sich vor Schmerzen. Ihre Hände waren gebunden und mit goldenen Nadeln aneinandergespießt. So litten sie für die Sünden ihrer Herren und reinigten deren Seelen durch ihre Schmerzen. Die Armen und die Bauern mußten dies ohne kaʼsgi -Magier tun und lagen oder knieten, die Gesichter mit Asche und Schweiß bedeckt, ihre Sünden bereuend. Die Albinos knieten schweigend, mit niedergeschlagenen Augen.
    Keiner von ihnen sprach jemals, außer in holprigen Kehllauten, mit Artgenossen. Zu Beginn des Wunders sollte jeder die Augen geöffnet haben, um die Götter zu schauen in ihrem Glanz, und dann nach Hause gehen, befreit von allem Bösen.
    Es waren noch zwanzig Minuten bis zum Wunder. Ich stand auf einem Berggipfel und schaute auf die wimmelnde Menschenmenge nieder mit einem gemischten Gefühl aus Verwirrung und Hohn. Doch auch ich hatte das seltsame Gefühl des Großartigen, Einmaligen. Prunk und Pracht, Armut und Erniedrigung – alles war in diesem Ameisenhaufen versammelt zu einer einzigen Kreatur. Und dennoch konnte ich nur Abscheu fühlen. Und Mitleid.
    Auch ich erwartete die Ankunft des Wunders, genau wie die anderen. Aber ich war allein – der Eremit des Berges, alleine lebend in einer kleinen Grotte, vor jedem geschützt. Ich war der Narr, der Einsiedler. Ich lebte zusammen mit meinen halbzerfallenen Büchern und Mikrofilmen, alleine mit meinen Erinnerungen, den Erinnerungen an all das, was ich wußte oder zu wissen glaubte – oder einst gewußt hatte. Ich wurde geduldet, sonst nichts.
    Der schwarze Himmel hatte sich nun verändert. Er war nun gelb wie der Bauch eines Feuersalamanders, mit einem giftig-orangefarbenen Schein, und grelle Blitze zogen wie Flügel durch den Himmel. Die Vorzeichen des Feuerwagens des achtjährlichen Gottes.
    Immer schneller und hysterischer wurden die Beschwörungen der Gebetsmagier. Die Gesänge schwollen zu einem Crescendo, stiegen und sanken die Tonleiter hinauf und hinunter, wurden als tausendfaches Echo zurückgeworfen.
    Der Himmel war nun ein purpurner Teppich, violett, mit brennenden Wolken. Am Horizont flackernde Feuerspritzer. Ein Zittern ging durch die wartende Menge, pflanzte sich von Mensch zu Mensch fort wie eine Kettenreaktion. Der Gesang stieg an, höher und höher, immer schriller, bis er plötzlich mit einem rauhen, beinahe tierischen Klang abbrach.
    Totenstille befiel die Welt.
    Die Masse stürzte zu Boden, betend, das Gesicht nach Osten gerichtet, in erstarrter, ehrfürchtiger Haltung. Ein Murmeln setzte ein, breitete sich aus zu einer eintönigen Melodie: »Unser Gott, der du kommst aus dem Unerreichbaren! Dein Wagen komme, deine Hand führe sowohl die Lebenden als auch die Toten, dein Glanz läßt die Welt verblassen und die Sterne! Unser Gott, wir …«
    Dann löste sich am östlichen Horizont eine Feuerwand. Flammende Energiebündel zerrissen das Bild, blitzten wie Schlangenzungen nach allen Seiten. Mit ohrenbetäubendem Donner raste der Götterwagen über die Täler und Berge,

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