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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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falsch gelaufen, und aus dem Spiel war plötzlich tödlicher Ernst geworden. Die Realität des Raaff und der Tierdiener wurde von niemandem mehr angezweifelt, und man vergaß, daß sie nichts als geistige Projektionen waren. Das eigene Unterbewußtsein der Kuppelbewohner hatte die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit verwischen lassen.
    Während sie dastand, bewegten sich riesige, froschähnliche Gestalten an ihr vorbei, auf den Ausgang zu. Es waren die Augenlosen, die ihre ursprüngliche Form wieder angenommen hatten. Sie erinnerte sich an alles in einem kurzen, mentalen Blitz, der wie eine Granate in ihr explodierte und ihr Inneres mit heißem Licht überflutete. Dann öffnete sich die Schleusentür vollständig.

    Esper Borkin, an Bord der Alphor , die im Begriff war, aufzusteigen, sah gerade noch durch Evyns Augen, wie sich die Schleusentür öffnete. Er fühlte den kalten Schmerz, als ihre Gefäße platzten und das Blut ihr aus Ohren, Nase und Mund gleichzeitig schoß, um auf der Stelle zu gerinnen. Er brach den geistigen Kontakt ab, noch ehe er den kalten Abgrund ihres Todes spürte.
    Danach saß Borkin zitternd an seinen Konzentratoren. Ihm wurde klar, daß er – und kein anderer außer ihm – fortan weiter mit dem leben mußte, was sich seinen Sinnen in letzter Sekunde dargeboten hatte. Er würde niemals in der Lage sein, den anderen von diesem Erlebnis zu erzählen, weil es ihm unmöglich war, zu entscheiden, ob er der Realität ins Angesicht gesehen oder nur den letzten, sich aufbäumenden Impuls eines zerfallenden menschlichen Geistes aufgefangen hatte.
    Durch die brechenden Augen Evyns hindurch hatte er gesehen, wie durch die offenstehende Schleusentür der Raaff in die Stadt gekommen war.

    Übersetzt von Horst Adam & Ronald M. Hahn.

Gust Van Brussel
Homo Imperialis
    Die künstliche Stille der Nacht legte sich über die Stadt. Während der größte Teil der Bevölkerung in den Schlafvierteln untertauchte, begannen nun die Geschöpfe der Dunkelperiode mit ihren ausgemergelten Körpern und gelblichen Augen ihre Tätigkeit.
    Die Menschen der Nacht unterschieden sich merklich von denen des Tages. Ihre Haut war von einem gewissen Grau, und das Kunstlicht ließ ihre Züge tierisch verzerrt erscheinen. Man konnte an ihren Gesichtern erkennen, daß sie sehr niedrige Intelligenzquotienten besaßen und geistig völlig reduziert waren. Die ständige Beeinflussung dieser Wesen durch die Hypnosestrahlen, die des Abends über die Stadt dahinhuschten – die sowohl Schlaf als auch Halluzinationen hervorrufen konnten –, hatten mechanisch reagierende Kreaturen aus ihnen gemacht.
    Die meisten Angehörigen dieser Schicht entstammten dem Lumpenproletariat, waren Nachkommen ehemals importierter Arbeitskräfte oder entstammten der verluderten Anarchistenbewegung, die sich seit Jahren am Rande der Gesellschaft bewegte. Mit einer geradezu merkwürdigen Regelmäßigkeit lieferte der Untergrund der Stadt diese Untermenschen, die selbst nicht mehr in der Lage waren, sich gegen soziale Ungerechtigkeiten aufzulehnen und mit grenzenloser Apathie ein Dasein fristeten, an dessen Ende als einzige Erfüllung der Tod stand.
    Inmitten des anhaltenden Widerstands, in einer Atmosphäre permanenter Aggression, Aufruhr, Anschlägen und Morden, in der Sadismus und Brutalität an der Tagesordnung waren, blieben sie gefühllos, passiv und dermaßen gelassen, als sei ihre eigene Existenz gar nicht von Belang. Wie programmierte Roboter taten sie ihre Arbeit, und keine Stimme der Außenwelt schaffte es, zu ihnen durchzudringen. Nur die Routinebefehle des Imperiums ließen sie zur Aktion schreiten.
    In ihren trägen Bewegungen lag etwas Automatenhaftes. Sie wirkten wie eine Tauchergruppe in einer überspülten Geisterstadt. Langsam, wie eine dahingleitende Lavaformation nahmen sie die Stadt ein, die wie ein gigantisches Schiff mit Millionen von Lichtern an der Ozeanküste vor Anker lag, wo Ebbe und Flut einander folgten in einem ewigen Rhythmus, wo endlose Schaumkronen gegen die riesenhaften Stadtwälle anbrandeten.
    Praktisch unhörbar in dem ohrenbetäubenden Niederschlagen schäumender Wogen, die sich in enormen Brechern entlang der gezackten Felsenküste aufspalteten, fuhren die Kampfwagen der Mächtigen über den Großen Ring, der die Stadt umschloß. Sie schoben sich, in bleiches Licht getaucht, träge über die Betondecke. Eine lange Reihe käferartiger Mastodonten, wackelnde, dantesche Monster auf ihrem Kontrollweg, während im

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