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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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der Situation, seines Lebens.
    »Warum haben Sie sich nicht entschuldigt?«
    »Ich hab doch noch nie gefehlt«, sagte Simon.
    »Was ist los mit Ihnen? Haben Sie verschlafen?«
    »Nein. Mir ist nicht nach Arbeiten heute.«
    Simon war verblüfft über diesen Satz. Er dachte, das kann ich nicht wirklich gesagt haben, das bin nicht ich, der so redet.
    »Das geht so nicht, Herr Bloch«, sagte Brönner. »Steigen Sie bitte in die Bahn und kommen Sie her. Ich will nicht so sein. Jeder hat mal einen schlechten Tag.«
    »Heute? Nein, ich weiß nicht. Ich bleib lieber zu Hause.« Simon spürte, wie er den Bogen langsam überspannte.
    »Sind Sie krank?«, fragte Brönner. Sein Chef wollte ihm offenbar eine Brücke bauen. »Ist Ihnen nicht gut, haben Sie Sommergrippe? Kopfschmerzen?«
    Simon legte eine Hand auf die Kappe. »Ja«, sagte er. »Kopfschmerzen, das trifft es vielleicht.«
    »Schön. Gut.« Brönner schien erleichtert. »Dann ruhen Sie sich heute aus und kommen morgen in alter Frische.«
    »In Ordnung.«
    »Dann bis morgen.«
    »Bis morgen«, sagte Simon.
    Er sah, wie das Telefon zurück zum Schränkchen schwebte. Dann ging er ins Bad. Simon schaute noch mal in den nackten Spiegel. Das tat gut jetzt. Er warf sich Wasser ins Gesicht, die Tropfen fielen ins Waschbecken und wurden im Fallen erst sichtbar. Und dann nahm er die Kappe vom Kopf und spürte einen leisen Stich am Schädel. Simon sah sein Gesicht wieder im Spiegel erscheinen. Als würde ein Zeichner es skizzieren, mit grob hingeworfenen Strichen. Er sah seine Augen, und langsam stellte sich sein altes Selbstgefühl wieder ein, aber das schien ihm mit einem Mal schrecklich fad. Das bin ich?, fragte er sich, drehte die Kappe um und schaute hinein, fand fünf frische Haare, meine Haare, dachte Simon, zupfte sie raus und ließ sie vom Wasser wegspülen. Meine Kappe, dachte er, meine Kappe. Hatte plötzlich Angst, Gregor könnte in seine Wohnung dringen und ihm die Kappe wegnehmen. Er rief den Schlüsseldienst an und vereinbarte für den Nachmittag einen Termin. Dann fuhr er zum Bahnhof und legte den Rucksack mit der Kappe ins Schließfach, ging spazieren, atmete tief und frei, diese Leute, dachte Simon, diese anderen da, die sehen mich und denken, ich bin ein gewöhnlicher Mensch, die laufen an mir vorbei, ohne mich wahrzunehmen, und die wissen noch nicht, dass sie bald an mir vorbeilaufen werden und mich nicht mehr wahrnehmen können . Er freute sich wie ein Kind auf den Augenblick, an dem er mit Kappe in die Welt treten würde, denn genau das wollte er tun, aber, dachte er, ich muss mich erst an die Kappe gewöhnen und lernen, mich unter ihr zu bewegen, ich werde das Neue zähmen wie meine Zeitung, immer ein bisschen länger unter der Kappe bleiben, immer ein bisschen mehr riskieren, ich muss die Kappe zu einem Teil meiner selbst werden lassen, erst dann kann ich den Menschen gegenübertreten und der Welt ins Gesicht sehen.

9
    S imon stand schon an der Haustür, als er auf der anderen Straßenseite Frau Kubelik sah. Sie schien auf jemanden zu warten. Simon überquerte die Straße und begrüßte sie.
    »Schon unterwegs?«
    »Wo geht’s denn hier in die Stadt?«, fragte Frau Kubelik.
    Simon sah sie fragend an. Soweit er wusste, lebte Frau Kubelik seit mehr als fünfzig Jahren in diesem Haus.
    »Das wissen Sie doch!«
    »Meinen Sie, Sie könnten mich ein Stückchen begleiten?«
    Simon sah sie an. »Warum nicht?«, sagte er.
    »Das ist freundlich von Ihnen, junger Mann«, sagte Frau Kubelik. »Ob ich mich unterhaken dürfte?«
    »Natürlich.«
    »Danke.«
    Sie gingen los, Frau Kubelik schnaufte. Das dauert, dachte Simon, Mensch, das dauert, er fragte sich, worüber er jetzt mit ihr sprechen könnte und was er von Waltraud Kubelik wusste, ihr Mann war vor Jahren gestorben, Herzversagen, was für ein Wort, das Herz ein Versager, Motor, der zu pfeifen beginnt, zu stottern, zu klopfen, das menschliche Auto rollt aus, noch ein Sprotzen, dann bleibt es stehen, fährt nicht mehr, das Auto, der Automat, der Selbstläufer, Simon verscheuchte seine Gedanken und sagte: »Schönes Wetter heute.«
    »Ja, dabei haben die Gewitter angesagt.«
    »Was die immer ansagen.«
    »Jaja, das stimmt nie.«
    »Genau.«
    »Wer kann schon wissen, was passiert?«
    »Genau.«
    »Das Wetter macht, was es will«, sagte Frau Kubelik. »Das Wetter kann es sich im letzten Augenblick anders überlegen.«
    Was für ein Satz, dachte Simon und nickte.
    »Jetzt gehen wir erst mal frühstücken!«, sagte

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