Die Tarnkappe
fluchte, weil er kein Zwei-Euro-Stück zur Hand hatte und deshalb am Kiosk einen Müsliriegel kaufen musste, ging mit dem Kleingeld zurück, wählte Schließfach 1267, legte den Rucksack hinein und schloss ab.
8
A ls Simon am nächsten Morgen die Zeitung in seine linke Jacketttasche stopfen wollte, fiel ihm auf, dass dort drinnen noch immer die Hälfte der gestrigen Bögen steckte. Die andere Hälfte in der rechten. Simon quetschte die neuen Bögen hinzu, und die Jacketttasche fühlte sich jetzt dick gepolstert an wie eine Schutzweste, die sein Herz vor Anschlägen aller Art bewahren sollte. Er ging zur Haltestelle und wartete dort. Die Straßenbahn kam an, Türen öffneten sich, Menschen stiegen aus und ein, Türen schlossen sich, aber Simon blieb reglos stehen. Alles geschah genauso wie jeden Morgen, nur er selbst war nicht mehr dabei. Nachdem auch die zweite Bahn ohne ihn verschwunden war, überquerte Simon die Schienen und wartete, bis sich die Straßenbahn aus der Gegenrichtung näherte. Er ließ sich zum Bahnhof fahren und holte seinen Rucksack. Wieder zu Hause, schloss er von innen die Wohnungstür ab und ließ den Schlüssel schräg stecken. Er sah in jedem Zimmer nach, aber Gregor war immer noch nicht zurückgekommen. Jetzt wollte Simon wissen, was genau da passiert war, gestern, er wollte alles noch einmal erleben, und ohne Zögern trat er in die Mitte des Raums, packte die Kappe aus und setzte sie sich auf den Kopf.
Alles geschah genauso wie tags zuvor. Nur blieb Simon diesmal ruhiger. Was wir für Gewohnheitstiere sind, dachte er. Das Ungeheuerlichste ertragen wir, wenn es sich wiederholt. Vielleicht haben wir deshalb solche Angst vorm Tod, weil wir wissen, dass er nur einmal zuschlägt: Der Tod ist kein Wiederholungstäter. Simon blickte an sich hinab: unsichtbar. Er fühlte sich nackt. Das Selbstverständlichste fehlte. Er tat einen ersten Schritt in die Wohnung hinein, unsicher, wie bei einem Kind, das gerade Laufen lernt. Er wäre beinah gestürzt. Er sah zwar, wo er hintrat, aber nicht, womit er hintrat. Wie selbstverständlich er immer hatte gehen können, weil er, wenn auch aus den Augenwinkeln heraus, gesehen hatte, dass sein Körper da war. Er schloss die Augen und fand sich besser zurecht. Jetzt, wo er das Fehlen seines Körpers nicht mehr sah, stellte sich ein Gefühl ein, das er gut kannte. Mit geschlossenen Augen wusste sein Geist genau, wo sich welcher Körperteil befand, sein Hirn hatte der Vorstellung Bahnen vorgegeben, in denen sich Simon bewegen konnte, er spürte seinen Körper jetzt besser, wusste intuitiv, wie er welchen Schritt zu setzen hatte, um den Raum zu durchmessen. Er tastete sich durchs Wohnzimmer in den Flur und dann ins Bad, legte die Hände auf den Rand des Waschbeckens, öffnete die Augen, sah in den Spiegel, und diesen Blick, diesen nächsten Augen blick würde er niemals vergessen. Er sah nichts, weder Gesicht noch Kappe noch Augen, nichts von dem, was er an jedem einzelnen Morgen seines Lebens gesehen hatte. Er fuhr herum, schaute nach hinten, suchte sich in seinem Rücken, dachte, ich muss doch irgendwo sein, es muss mich doch geben irgendwo, aber das war nur ein Reflex, der sinnlos verpuffte, und Simon war froh, dass seine Hände ihn am Waschbecken festhielten, er hätte sonst den Halt verloren. Der Impuls, die Kappe abzureißen, war größer als gestern, aber Simon widersetzte sich, er verließ das Badezimmer, diesmal hielt er die Augen geöffnet, das Gehen klappte schon etwas besser, doch Simon war froh, wenn er auf dem Weg an einem Stuhl oder Schrank vorbeikam, an den er seine Hände legen konnte. Er setzte sich in den Sessel. Das Atmen, auf das er sich jetzt konzentrierte, beruhigte ihn noch mehr als sonst. Wie merkwürdig, dachte Simon, dass man den Atem nicht sieht, der Leben ermöglicht. Nur im Winter sieht man ihn, als weiße Fahne vorm Mund, nur wenn uns kalt ist, nur wenn wir zittern. Simon fasste sich ans Gesicht. Alles war an seinem Platz. Er sah den Kopfhörer auf der Vitrine neben sich und griff danach. Simon wusste nicht, was er erwartet hatte, aber der Kopfhörer blieb sichtbar, schwebte, von seinen Händen gehalten, dicht vor ihm, als hinge er an einer Kordel und würde von oben durch die Luft gezogen. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war Brönner. Simon wusste, was kommen würde.
»Wo sind Sie?«, fragte Brönner.
»Hier. Zu Hause«, sagte Simon und freute sich, dass er den Humor nicht verloren hatte, fühlte die ganze Absurdität
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