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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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und dieses Verschwinden seiner selbst fiel nicht wie ein Schleier über ihn, sondern durchkroch seinen Körper von innen wie ein Wurm und sickerte zugleich von außen wie eine Flüssigkeit an ihm hinab, es verschwand zunächst seine Brust, und Simon sah, wie sein Bauch sich auflöste, seine Arme, seine Hände, Beine, Füße, so lange sah er an sich herab, bis er vollständig bekleckert war von nichts. Ich erblinde, dachte Simon, aber dann merkte er, dass er den Boden noch sehen konnte, auf dem seine Füße stehen mussten, auch die Tür konnte er noch sehen und den Läufer im Flur, das Schränkchen, nur sich selbst konnte er nicht mehr sehen: sein Körper verschwunden. Er hob die Hände und sah durch sie hindurch auf die Wand, sah das Fehlen der Hände, schrie furchtbar laut und musste die Augen schließen, weil er die Kraft nicht hatte, auszuhalten, was geschah, das ist nur ein Traum, dachte er zitternd, zwang sich dazu, das zu denken, obwohl er wusste, dass es nicht stimmte, musste es denken, um nicht den Verstand zu verlieren, ich werde die Augen aufschlagen, dachte Simon, und alles wird sein wie vorher, etwas anderes ist undenkbar. Doch als er die Augen öffnete, war er immer noch verschwunden.
    Unsichtbar, dachte Simon zum ersten Mal, er griff zum Kopf und zerrte an der Kappe, die sich widerspenstig löste, warf sie von sich, stand da, schaute auf seinen Körper, und der nahm langsam wieder Gestalt an, Simon atmete auf, rieb sich Arme und Beine, als sei ihm kurz kalt gewesen und als könne er mit der Wärme auch die Sichtbarkeit zurück in seinen Körper reiben, betastete sich, um sich zu vergewissern, dass er da war, dass er existierte, dass er wirklich und lebendig in Zeit und Raum stand, lief sogar ins Bad, blickte in den Spiegel, sah sich selbst an, unverändert bin ich, dachte Simon, so, wie ich mich kenne, dasselbe Gesicht wie vorher, aber Simon tastete auch den Spiegel noch ab, als traue er ihm nicht, zählte seine Atemzüge, verließ das Bad, ging in den Flur, sah die Kappe dort liegen, die Innenseite nach oben gekehrt, noch einmal strich sich Simon über die Haare.
    Draußen klopfte jemand. Klingelte. Simon stieg über die Kappe hinweg, ohne nachzudenken, er riss die Tür auf, dort stand die alte Frau Kubelik, und ehe sie etwas hätte fragen können, rief Simon schon: »Können Sie mich sehen?«
    »Ja«, sagte Frau Kubelik. »Ich habe doch meine Brille auf.«
    Simon wusste nicht, was er sagen sollte, er stand da, hielt die Tür in der Hand, halb geöffnet, die Kappe auf dem Boden im Flur, nicht sichtbar für Frau Kubelik.
    »Ich habe Schreie gehört«, sagte Frau Kubelik. »Ist alles in Ordnung? Ich habe gedacht, ich schaue mal nach.«
    »Ja, danke«, hörte Simon sich sagen, »das ist lieb, das ist nett, danke, Frau Kubelik, alles in Ordnung, ich hab, das war, es ist so, der Fernseher, ich hab ihn zu laut gestellt.«
    »Das ist ja nicht schlimm, ich dachte nur, das ist der junge Mann von nebenan, der schreit. Vielleicht ist was passiert. Ich dachte, naja, ich gucke lieber mal nach.«
    »Danke, werd mich revanchieren. Wenn Sie mal was brauchen, wenn Sie mal Hilfe brauchen, Frau Kubeli k …«
    »Dann will ich mal wieder.«
    Simon hoffte, dass Frau Kubelik nichts von seiner Aufgelöstheit bemerkt hatte, er rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden, betrachtete die Kappe und dachte, das ist nicht wahr, das kann nicht sein, das ist, aber wenn es wahr ist, dann werde, dann kann, ich muss zur Ruhe kommen, wo ist sie hin, meine liebgewonnene Ruhe, seit Gregor hier war, ist sie mir abhanden gekommen. Und Simon dachte an Anna. An Anna zu denken besänftigte ihn für gewöhnlich. Er dachte an ihre behagliche Art, die Dinge zu verrichten, dachte daran, wie sie die Blätter der Pflanzen zwischen den Fingern rieb, um herauszufinden, wie viel Wasser sie brauchten, dachte daran, wie gründlich und sacht sie den Pizzateig ausrollte, wie sie vom dritten in den vierten Gang schaltete und die Hand noch eine Sekunde länger als nötig auf dem Schalthebel ließ, und wie gleichmäßig sie sich eincremte, am Abend, wenn sie vorm Spiegel saß. Doch ruhiger wurde Simon nicht. Er stopfte die Kappe in einen kleinen Rucksack, verließ seine Wohnung, ging zur Haltestelle, sah sich nach allen Seiten um, hielt instinktiv Ausschau nach Gregor, ob dieser vielleicht in der Nähe lauerte, und als er sich vergewissert hatte, dass dem nicht so war, stieg Simon in die Straßenbahn, fuhr zum Bahnhof, suchte die Schließfächer auf,

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