Die Tarnkappe
Bad, warf Wasser ins stumme Gesicht und zerrte die Kappe vom Kopf.
Da schrie er.
Laut.
Lauter, als er je zuvor geschrien hatte.
Er warf die Kappe von sich, zitterte. Sofort war alles wieder da. Frau Kubelik. Das Gift. Das Wasser. Die Flasche. Das Glas. Nicht ich hab’s getan, die Kappe war’s, sagte er, und er kickte die Kappe weit von sich, fiel sofort danach auf die Knie, rutschte hin, hob die Kappe auf und legte sie behutsam auf den Tisch, nur, um plötzlich angewidert in ihre Richtung zu spucken, ehe er wieder Sanftheit spürte, restlose Verfallenheit, und Simon streichelte die Kappe, aber nur so lange, bis er sich vor ihr schüttelte wie vor einer eklen Spinne und seine Wohnung verließ. Es war erst sechs am Morgen, Frau Kubelik würde noch schlafen, wenn sie noch schlafen konnte , dachte Simon, wenn sie nicht gestern das Wasser getrunken hat. Er betrat ohne Kappe die Nachbarwohnung, lauschte, schlich zum Schlafzimmer, legte sein Ohr an die Tür. Hörte Schnarcher. Räuspern. Schmatzen. Er atmete auf. In der Küche sah alles aus wie am Abend zuvor. Simon nahm die Flasche und kippte das Gebräu in den Ausguss, ließ klares Wasser hineinlaufen, schüttelte die Flasche, kippte sie wieder aus und wiederholte den Vorgang mehrmals, ehe er die Flasche wieder halb mit Leitungswasser füllte und zusah, wie das frische Wasser an den Innenseiten hinabfranste. Er hatte Glück gehabt, Frau Kubelik lebte, sie war davongekommen, ein Zufall, sie hatte einfach am Abend zuvor keinen Durst mehr gehabt, verdammt, dachte Simon, das hätte ins Auge gehen können, und wütend war er, wütend auf sich selbst und wütend auf die Kappe.
Er kehrte in seine Wohnung zurück, und ohne die Kappe eines Blickes zu würdigen, griff er zum Telefonhörer, wählte die Nummer, die immer noch auf dem Zettel neben dem Telefon lag: Gregor Strack. Ich muss dich sprechen. Jetzt. Sofort. Eine Frauenstimme meldete sich.
»Wer sind Sie?«, rief Simon.
»Wer sind Sie ?«, wurde er zurückgefragt.
»Ich will Gregor sprechen«, sagte Simon. »Ist das nicht seine Nummer?«
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Das ist mir egal.«
»Woher haben Sie die Nummer?«
»Seine Mutter hat sie mir gegeben.«
»Was wollen Sie?«
»Mein Name ist Simon Bloch.«
Schweigen am anderen Ende.
»Kennen Sie meinen Namen?«, fragte Simon.
»Gregor hat von Ihnen erzählt.«
»Und? Ist er da?«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte die Frau.
»Vor, ich weiß nicht, vier Wochen?«
»Was wollen Sie von ihm?«
»Ich muss ihn sprechen. Er hat mir einen Koffer gegeben, einen schwarzen Koffer.«
»Und?«
»Ich sollte ihn aufbewahren. Er wollte ihn wieder abholen. Er ist nicht mehr aufgetaucht.«
»Haben Sie den Koffer geöffnet?«
»Er hat es mir verboten. Was ist jetzt mit Gregor? Wo ist er? Kann ich ihn sprechen? Wer sind Sie?«
»Sandra Strack. Ich bin seine Frau.«
»Und Gregor?«
»Ist verschwunden. Seit zwei Monaten.«
»Seit zwei Monaten? Das heiß t …«
»Genau. Sie sind der Letzte, der ihn gesehen hat.«
»Und er hat sich nicht gemeldet?«
»Nein.«
»Zu mir hat er gesagt, er wird verfolgt. Vielleicht ist er entführt worden.«
»Es hat niemand Lösegeld gefordert. Sagen Sie, Herr Bloch, ich weiß nicht, ob Ihre Zei t – aber könnten Sie kommen?«, fragte Sandra nach einigen Sekunden, in denen Simon auf die Noppen der Raufasertapete gestarrt hatte. »Das wäre wichtig. Wenn Sie mir den Koffer bringen könnten, ich übernehme alle Unkosten. Oder wenn es Ihnen zu viel Umstände macht, ich kann den Koffer auch abholen lassen, von einem Kurier.«
»Wohin soll ich denn kommen?«
Als Simon die Adresse hörte, wurde ihm kurz schwarz vor Augen.
»Die Ludwigsvilla? Bei Geschbach? In dem Dorf bin ich groß geworden.«
»Ja. Gregor wohl auch, oder?«
Simon hätte es niemals für möglich gehalten, dass Gregor, ausgerechnet Gregor, ins Kindheitsdorf zurückkehren würde, aus dem er hatte fliehen wollen, seit er denken konnte, nur raus aus diesem Kaff, hatte er immer gesagt, und jetzt gehörte ihm die Ludwigsvilla, das war nicht möglich, die Villa musste ein Vermögen gekostet haben, und woher hatte Grego r … »Ich komme«, rief Simon.
»Das ist gut. Wann?«
»Gegen sechs kann ich da sein.«
»Ich danke Ihnen.«
»Keine Ursache.«
Es piepste aus dem Hörer. Simon drückte den Knopf. Er legte das Telefon weg. Er rieb sich durch die Haare. Er rieb sich weiter durch die Haare. Er hörte nicht auf, sich durch die Haare zu reiben.
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