Die Tarnkappe
träumte von Pyramiden, einem Zwerg und gellendem Gelächter. Als der Wecker klingelte, nahm er ihn vom Nachttisch und presste ihn so hart an die Lippen, dass er verstummte.
Gegen eins stand er am Bahnhof. In der rechten Hand einen nagelneuen schwarzen Zahlenschloss-Aktenkoffer, gefüllt mit Gregors Zeitungsschnipseln, sowie einen Rucksack auf dem Rücken. Und Simon musste sich etwas beweisen. Musste sich beweisen, dass er unabhängig war. Dass er die Kappe loslassen konnte. Dass er immer noch ein Mensch war ohne Kappe. Ein denkender, mündiger, eigenständiger Mensch aus Fleisch und Blut. Dass er diesem esoterischen Firlefanz keinen Glauben schenkte: » … und ehe du dich umschauen kannst, bist nicht mehr du selbst unter der Kappe, sondern nur noch die Kappe, die sich deinen Körper einverleibt und nicht mehr von dir lässt.« Das war lächerlich. Simon legte die Tüte, in die er die Kappe gestopft hatte, ins Schließfach und schloss ab. Wirre Gedanken stiegen plötzlich in ihm auf: Was, wenn Gregor tatsächlich entführt worden war? Und die Entführer, verblendete Mitglieder der Société , nichts aus ihm herausbrachten? Oder es hatte einen Kampf gegeben, und die Entführer hatten ihn getötet? Und jetzt haben sie die Villa durchsucht und keine Kappe gefunden. Sie ahnen, Gregor wird jemand anderem die Kappe gebracht haben. Es bleibt den Entführern nichts übrig, als zu warten, bis dieser andere käme, in die Villa, auf der Suche nach Gregor, mit tausend Fragen im Kopf. Nein, der Schlüssel zum Schließfach musste weg. Simon ging ins Papiergeschäft, kaufte einen Luftpolsterumschlag, schob den Schließfachschlüssel hinein, wollte ihn schon an sich selbst adressieren, aber auch das schien ihm zu unsicher, deshalb schrieb er den Namen Miriam Hackethal auf den Umschlag, ihre Adresse, und als Absender seinen eigenen Namen. Er warf den Brief in den Briefkasten, der vorm Bahnhof stand, das heißt, er wollte ihn einwerfen, konnte aber den Brief nicht loslassen, stand da, am Schlitz, zitterte leicht, überlegte hin und her, ich muss es schaffen, ich will es, ich kann auf sie verzichten, und schon lockerte sich der Griff, dann wieder dachte er, nein, das muss nicht sein, nimm die Kappe lieber mit, wer weiß, wozu du sie brauchst, doch da schlug ihm jemand von hinten auf die Schulter und sagte: »Wird das noch mal was?« Vor Schreck ließ Simon den Brief los. Er fiel in den Kasten. Simon trat zur Seite, um dem anderen Platz zu machen. Ein rundlicher Mann, der den Kopf schüttelte. »Man muss sich entscheiden können!«, sagte er und ließ Simon stehen, nachdem er selber einen Umschlag eingeworfen hatte. Simon überlegte, ob er bis zur Leerung warten und den Postmenschen bitten sollte, ihm den Brief auszuhändigen, unter Vorzeigen des Ausweises, aber dann sah er, der Kasten würde erst um sechsUhr geleert werden, und zu diesem Zeitpunkt war er mit Sandra Strack verabredet. Etwa vier Stunden würde die Fahrt dauern ins mit Erinnerungsdreck verschüttete Kindheitskaff. Simon zog den Gurt seines Rucksacks straffer, wurde von seltsamer Unruhe erfasst, tat etwas, was er lange nicht mehr getan hatte, kaufte sich ein Päckchen Zigaretten und rauchte. Die erste Zigarette schmeckte scheußlich, er machte sie nach zwei Zügen wieder aus. Trotzdem steckte er das Päckchen in seine Jackentasche.
Nur wenige Leute saßen im Erste-Klasse-Großraumwaggon. Es lagen Zeitungen aus. Simon nahm sich eine, faltete sie, wollte sich beweisen, dass er noch der Alte war, schob die Bögen in seine Jacketttasche, machte es sich bequem, kreuzte die Beine und merkte, wie schwer es ihm fiel, sich zu konzentrieren. Da las er im Regionalteil, dass ein Obdachloser tot aufgefunden worden war. Mord: eine Flasche, die man ihm übergezogen hatte. Aus keinem erkennbaren Motiv. Simon verlangte nach Wasser. Er trank. Er sah die Szene gestochen scharf vor sich: Der Obdachlose zieht ein Bündel Hunderter aus seiner Tüte, zeigt es einem Kumpanen, dann der Streit um das Geld, zehntausend Euro bedeuten die Welt für einen Obdachlosen, Mensch, dafür könnte man töten. Schräg gegenüber saß jetzt eine junge Frau, Gesicht ihm zugewandt. Simon war froh über die Ablenkung. Er beobachtete sie, ihre Haare, ihre Hände, was hatten diese Hände getan in letzter Zeit, wen hatten sie gehalten, umarmt, gestreichelt, und dieser Mund, was hatte er gesagt, ein schmallippiger Mund, in dem ein Splitter Unterkühltheit steckte, die Schuhe zog sie aus und legte die Füße hoch,
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