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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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ehe er plötzlich ausrief: »Was ist denn Konsonanz ohne Dissonanz? Dur ohne Moll? Diatonik ohne Chromatik? Die Musik lebt von nichts anderem als vom Schmerz, lebt davon, dass wir den unaufgelösten Akkord nicht aushalten können. Das Unaufgelöste ist Bedingung für Auflösung, der Schmerz die Bedingung fürs Glück.« Immer noch stierte Frau Kubelik still auf ihre Scherenschnitte, Simon redete weiter, so lange, bis er nichts mehr zu sagen hatte.
    »Wissen Sie«, sagte Frau Kubelik, »was das ist?« Sie deutete auf den schwarzen Bogen in ihrer Hand.
    »Ein Scherenschnitt?«, fragte Simon.
    Frau Kubelik nickte.
    Schweigen.
    Die Uhr an der Wand tickte um ihr Leben.
    »Sehen Sie das?«, fragte sie und faltete den Bogen auf. »Was ist das?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ein Drache. Und das?« Sie faltete einen zweiten Bogen auf. Er unterschied sich kaum vom ersten.
    »Auch ein Drache?«, fragte Simon.
    »Eine Distel.«
    »Aha.«
    »Und das Wetter?«, fragte Frau Kubelik.
    »Jaja«, sagte Simon.
    »Ich bin noch nicht draußen gewesen heute.«
    »Nein?«
    »Was soll ich auch da.«
    »Verstehe.«
    »Also? Wie ist es?«
    »Was?«
    »Das Wetter?«
    »Gut.«
    »Warm?«
    »Ausreichend warm.«
    Simon verabschiedete sich plötzlich, sagte, er finde allein hinaus, ließ Frau Kubelik in der Küche sitzen, und während er den Flur entlangging, nahm er die Kappe oder die Kappe nahm ihn, er wusste das mittlerweile nicht mehr zu trennen, öffnete zwar die Wohnungstür, schloss sie aber wieder von innen, wollte noch einmal nach Frau Kubelik sehen, diesmal unsichtbar, ging zurück in die Küche und wurde stiller Zeuge des ewigen Schnippelns, sah zu, wie ein Scherenschnitt nach dem nächsten entstand und weggelegt wurde, und mit jedem Scherenschnitt verdüsterte sich Frau Kubeliks Miene, als schnitte sie ein Stück ihrer Lebenskraft aus dem eigenen Körper, und am Schluss holte sie einen Papierkorb und fegte alles hinein, sowohl die Schnipsel als auch die fertigen Schnitte. Frau Kubelik ging ins Wohnzimmer, legte sich aufs Sofa und starrte nach oben, zur Decke, einige Minuten lang, ehe sie in einer unvorhersehbaren ruckartigen Bewegung ein Bein hochriss, mit einer solchen Schnellkraft, dass ihr der Schluffen vom Fuß flog, über ihren Kopf hinweg, und hinter ihr zu Boden fiel, obwohl sie sich bemühte, ihn aufzufangen, schon flog der zweite Schluffen, auch diesen konnte sie nicht fangen, Frau Kubelik schlug sich heftig vor die Stirn und sagte: »Wär ich mal tot und begraben!«, wiederholte den Satz, nicht weinerlich, sondern fast würdevoll wütend, und dann griff sie zum Altfrauenrock, der sich über die Knie bis zu den Schenkeln hochgeschoben hatte, und versuchte mit aller Kraft, den Stoff zu zerfetzen, aber es gelang ihr nicht, sie legte ihre Hände an den Kopf, und Simon sah ein paar trockene Tränen, die sich ihren Weg bahnten, als würden sie erst mal erkunden wollen, wohin sie zu kullern hatten.
    Simon verließ Frau Kubelik, und was er nun tat, geschah wie von selbst. Er eilte die Treppe hinab, betrat hinter einem Kunden die Apotheke, schlich in die Räume mit den Mitteln, die keinen was angehen, und nachdem er die Lage des Schlüssels fürs Giftschränkchen ausspioniert hatte, nahm er heimlich ein Fläschchen raus und steckte es ein. Zu Hause schaute er nach, was genau er da gestohlen und wie viel von dem Zeug man zu verwenden hatte, wurde mitgerissen, eine Welle, die ihn zurück zu Frau Kubelik spülte, Geräusche des Fernsehers, Waltraud Kubelik saß im Wohnzimmer. Wär ich mal tot und begraben. Simon folgte einem seltsamen Erlösungsdrang und ging in die Küche. Eine Flasche Wasser stand auf dem Tisch, ohne Deckel, und daneben, halb gefüllt, ein Blümchenglas auf gehäkeltem Bierdeckel. Simon öffnete mit eiskalter Hand das Pipettenfläschchen, tröpfelte Gift hinein, schraubte das Fläschchen zu, kehrte der Wohnung den Rücken und ließ sie allein, Wohnung, Flasche, Glas, Wasser, Gift, und nur noch ein Schlückchen entfernt Frau Kubelik, die vielleicht noch am Abend die Erfüllung ihrer Wünsche trinken würde, ohne es zu wissen. Simon war froh über das, was er getan hatte, er nahm die Kappe nicht mehr ab in dieser Nacht, fühlte Müdigkeit, legte sich schon um neun hin und schlief ein, das zweite Mal unter der Kappe, und als er wieder zu sich kam, war ihm, als sei nur ein Lidschlag vergangen, und die Nacht war traumlos gewesen und zeitlos, als hätte die Kappe sie ihm gestohlen. Simon fühlte sich doppelt gestärkt, ging ins

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