Die Tarnkappe
vorm Kappenschlaf, doch irgendwann wurde die Müdigkeit zu schwer, er glitt in die Nacht und schlief an der Wand sitzend ein. Stunden später wachte er wieder auf, blickte zur Uhr, kurz nach sieben, der nächste Morgen, er wusste: Bald würde es losgehen. Es war ein gespenstisch traumloser Schlaf gewesen, und Simon fühlte sich wacher, aufmerksamer, konzentrierter, in allem geschärft, er stand geduckt neben der Tür, ein Tier, bereit zum Sprung. Ein warmes, tiefes Gefühl des Angekommenseins: Jetzt, mit diesem Instrument auf dem Kopf, würde er die Welt erobern, das hier, dachte er, ist nur der lächerliche Anfang, mir kann nichts passieren, und als die Tür zum Vorraum aufging und das Licht ansprang und Männer hereintraten, pfiff Simon innerlich Catch Me If You Can von John Williams, verließ den Raum, blickte zurück und sah, wie die Männer Geld auf den Geldwagen stapelten, sie schlossen den Tresor, nichts war ihnen aufgefallen. Draußen hätte Simon am liebsten gebrüllt vor Freude. Er blieb stumm und schrie alles in sich hinein. Das war es, was er jetzt tat, seit er die Kappe trug: Alles in sich hineinschreien. Freude, Wut, Schmerz. Er tänzelte durch die Straßen, kam an einem Obdachlosen vorbei, der im Park pennte, neben ihm lagen Tüten mit Zeug. Im Überschwang zog Simon ein Bündel Hunderter aus dem Hemd, steckte es in eine der Tüten, ging weiter und fühlte sich wie Robin Hood, pfiff innerlich die Titelmusik aus dem Erol-Flynn-Film, und plötzlich blieb er stehen. Ihm fiel etwas auf: die Schatten der Menschen. Da treten sie ihre Schatten platt, dachte Simon. Wenn die Sonne in ihrem Rücken steht, stiefeln sie auf die schwarzen Umrisse ihrer selbst und holen sie doch nie ein. Er blickte auf den Boden: Sein eigener Schatten fehlte. Ich bin anders, dachte er und lachte und sah hoch. Ich bin anders als ihr alle. Selbst die Sonne kann mich nicht sehen.
Zu Hause angekommen, packte er das Geld auf den Tisch. Er merkte, wie er innerlich schrumpfte, er hatte das Gefühl zu erbleichen, ihm war, als krampfe sich sein Magen zusammen, und das alles nur, weil er wusste, was jetzt auf ihn zukam: das Abziehen der Kappe. Wusste, dass es diesen Schmerz geben würde, der Schmerz, der nicht nur von Mal zu Mal gewachsen war, sondern auch umso heftiger zuschlug, je länger er die Kappe aufbehielt. Kurz überlegte Simon, ja, zum ersten Mal hatte er jetzt diesen Gedanken, aber er radierte ihn sofort aus wie einen Bleistiftstrich, den Gedanken: Und wenn ich die Kappe gar nicht mehr abnehme? Und wenn ich sie für immer anbehalte? Nein. Das konnte er nicht. Simon hob die Hände, zog an der Kappe und merkte, wie schwer sie sich lösen ließ, nahm all seine Kraft zusammen, riss sie vom Kopf, schrie auf, der Schmerz wie ein Feuerstich in seinen Haaren, seiner Haut, durch den Panzer seines Schädels in die Tiefen des Nervensystems, und von dort aus sickerte der Schmerz durch den Körper nach unten, wurde schwächer, verlor sich, rieselte durch Beine und Füße in den Boden. Simon öffnete die Augen und ließ die Kappe aus den Händen gleiten, weil sie blutig war, und ein Büschel Haare klebte dort drinnen. Es roch ein wenig verbrannt. Und in diesem Augenblick gelang es ihm nicht mehr, das Bild von Gregor beiseitezuschieben, Gregor Strack mit Kopftuch und Strohhut, Gregor, der sich panisch kratzte, mit irrem Blick. Fragen standen plötzlich im Raum. Was die Kappe aus Gregor gemacht hatte und was sie aus ihm, Simon, machen würde. Wie sie überhaupt funktionierte. Woher sie kam. Wo Gregor sie gefunden und warum er sie bei Simon versteckt hatte. Ob der Schmerz weiter zunehmen und er seine Haare verlieren und eines Tages unter Kopftuch und Strohhut enden würde wie Gregor. Simon ließ die Kappe liegen, er hatte keine Wahl mehr, und griff endlich zum Koffer.
Er hatte Gregors Koffer achtlos unterm Tisch stehen lassen, jetzt holte er den Werkzeugkasten und stocherte so lange am Schloss herum, bis es aufsprang. Im Koffer befanden sich Zeitungen. Simon wühlte und blätterte, schlitzte auch das Futter des Koffers auf, den Boden, die Seiten, schließlich lag nur noch eine Kofferruine auf dem Wohnzimmertisch, doch der Inhalt war und blieb nichts weiter als alte Zeitungen. Simon sah sie durch. Wertloses Papier, meist vermischte Nachrichten, manchmal regionale, hin und wieder Sport, ein paar Blätter Politik oder Wirtschaft. Simon seufzte. Er hatte es insgeheim geahnt: der Koffer ein bloßes Manöver, mit dem Gregor von der Tüte im Schrank
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