Die Tarnkappe
Nein, er rieb nicht, er kratzte sich. Das juckt, dachte Simon. Das juckt. Und dann blickte er noch einmal zur weißen Wand, keinen halben Meter von seinen Augen entfernt. Er sah nicht die Wand. Er sah nichts. Nur Weiße. Als blicke er in einen Spiegel. Hallo, sagte er. Und dann: Hehe.
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D ie Société de Mythologie erweckte den Anschein einer seriösen Gesellschaft. Dreisprachige Website. Französisch, Englisch, Deutsch. Links, Hinweise. Vom Direktor der Société , Jacques de Lamaire, gab es ein Foto auf der ersten Seite, ein Mann mit Brille, im Anzug, glatt rasiert, Denkerfurchen, Simon konnte ihn auf Anhieb nicht ausstehen. Er erinnerte ihn an den Typus Mensch, der äußerlich den Überlegenen, Wissenden mimt, innerlich aber nichts weiter ist als ein krampfhafter Fanatiker, der nicht etwa der Welt etwas abringen, sondern der Welt etwas aufdrücken will, und zwar einen Stempel seiner selbst. Auf der Homepage der Société fanden sich Aufsätze, Abhandlungen, Schriften. Themen: Mythologie, Sagen, Legenden und ihr Wahrheitsgehalt. Simon stöberte ein wenig herum, ehe er den Text über die Tarnkappe aufrief, der ihm von der Suchmaschine angezeigt worden war, auf Französisch, Englisch, Deutsch. Der Autor, ein gewisser Josef Kuhn, Mitglied dieser obskuren Société , führte aus, dass man unterscheiden müsse zwischen der Tarnkappe als Symbol und der Tarnkappe als Gegenstand. »Wenn wir über die Tarnkappe lesen oder schreiben, glauben die meisten an den Symbolcharakter des Geschriebenen. Wir kommen nicht auf die Idee, es könnte die Kappe wirklich geben. Dabei steht die Tatsache ihrer Existenz außer Zweifel.« Seit dem Jahr 1963 gebe es allerdings keine Spuren mehr von der Kappe. Über einen so langen Zeitraum sei sie noch nie abhanden gekommen, obwohl es immer wieder Jahre gegeben habe, in denen sie als verschollen galt. Die Suche nach der Tarnkappe, so das Credo des Verfassers und die feste Überzeugung der Société , bringe gar nichts. Wer nach ihr suche, werde sie niemals finden. Im Gegenteil: Die Kappe werde einem gebracht, gereicht, man könne nichts dafür, wenn man in ihren Besitz gelange, man denke, es sei ein Zufall, aber sobald die Kappe ihr Versteck verlasse, suche sie sich ihr Ziel von ganz allein, und wehe dem, der die Kappe aufsetze, ohne sich im Klaren zu sein über die Folgen, die das Aufsetzen der Kappe mit sich bringe. Simon wischte sich über die Augen, er klickte weiter und gelangte in ein Tarnkappen-Forum, in dem verschiedene Einträge zu lesen waren, unter anderem von einer Gruppe, die sich Die Suchenden nannte: erbitterte Gegner der Société de Mythologie . Sie behaupteten, die Mitglieder der Société seien selber hinter der Kappe her und würden fälschlicherweise verbreiten, dass man die Kappe nicht suchen dürfe. Die Kappe der Macht: Wer die Kappe trage, werde sich verändern, und niemand könne der Kappe widerstehen, der Macht der Unsichtbarkeit, niemand sei davor gefeit, von der Kappe geschluckt zu werden, »die Kappe frisst dich mit Haut und Haaren, du denkst, du setzt die Kappe auf, aber sie greift nach dir, du hast längst die Macht verloren, über dich, dein Handeln, dein Wollen. Die Kappe schluckt deine Gedanken, die Kappe tötet die Zellen in deinem Kopf, und ehe du dich umschauen kannst, bist nicht mehr du selbst unter der Kappe, sondern nur noch die Kappe, die sich deinen Körper einverleibt und nicht mehr von dir lässt.« Simon las noch eine Reihe weiterer Einträge und stieß plötzlich auf den Fall eines gewissen GS . Obwohl man auch vom Great Searcher sprach, wandelten sich die Initialen GS in Simons Geist sofort zu Gregor Strack. Dieser GS war vor Monaten aufgetaucht bei den Suchenden , hatte die Suche mit neuem Schwung befeuert, nicht nur finanzieller Art. Die Fakten: Gemeinsam mit einem Liliputaner namens Sebastian war GS nach Mexiko aufgebrochen, Yucatán, Ruta Rio Bec, zu den Maya-Ausgrabungsstätten. Der Zwerg war tot aufgefunden worden, in der Nähe einer noch nicht freigelegten Pyramide bei Calakmul, von GS fehlte jede Spur, und in der Pyramide selbst hatte man einen geheimen Gang gefunden und Anzeichen eines Kampfs. Es gab jede Menge Spekulationen darüber, was genau geschehen sein könnte, das Ringen um die Kappe, Mord, Unfall, aber Simon schloss die Seite, schüttelte den Kopf, warf sich Wasser ins Gesicht und ging noch ein wenig auf und ab. Dann legte er sich hin. Es war zehn Uhr am Morgen. Er stellte den Tennisballwecker auf zwölf, schlief unruhig und
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