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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Simon musterte jetzt ihr Kinn, ihre Arme, die Fingernägel rot lackiert, blaue Adern auf den Handrücken, wie bei jedem Menschen, und plötzlich schien Simon eine Hand als Hand völlig grotesk, fünf Finger, was ist das, was soll das, wer hat das erfunden? Dann blickte er in die Augen der Frau, und die sah ihn genervt an und sagte laut: »Wollen Sie ein Bild von mir?!« Simon stammelte eine Entschuldigung, wechselte den Platz, setzte sich ans andere Ende des Waggons und sah aus dem Fenster. Er hatte die Frau angestarrt. Hemmungslos. Ohne zu zucken. Weil er zum ersten Mal vergessen hatte, dass er die Kappe nicht trug.

17
    D er Gedanke an die im Schließfach liegende Kappe schmerzte ihn jetzt ungeheuer, als wäre sie ein Baby, das dort lag und weinte und nicht herauskonnte. Er hätte nicht mehr sagen können, aus welch krankhafter Logik heraus er sie dort eingesperrt hatte. Er dachte mit Erregung an das Gefühl, kurz bevor er sie aufsetzte. Die Hände, die sich selbständig machten und den Weg zu seinem Kopf suchten. Der Duft, der nussige Geschmack nach brauner Butter, die weich-borstige Oberfläche. Dass er die Kappe nicht mitgenommen hatte! Dass er den Schließfachschlüssel nicht an sich selbst, sondern an die Hackethal adressiert hatte! Er musste schnell wieder zurück, schon morgen früh. Um zu verhindern, dass die Kappe Miriam in die Hände fiel. Simon klinkte Hackethals Schlüsselbund an seinen eigenen und atmete durch.
    Der Bummelzug fuhr in Geschbach ein, und Simon musste zehn Minuten auf ein Taxi warten. Bei der Villa gab es tatsächlich ein Namensschild: Sandra und Gregor Strack. Nachdem Simon geklingelt hatte, summte das Gittertor auf. Ein schmaler Weg führte zum Haus. Sandra stand an der Tür und begrüßte ihn. Sie trug ihre schwarzen Haare offen, mochte Ende dreißig sein, schlank, ein Rock, der nicht über die Knie reichte, dazu Schmuck und viel Schminke.
    »Wann, sagten Sie, haben Sie Gregor das letzte Mal gesehen?«, fragte sie, als sie sich gegenübersaßen.
    »Er hat mich besucht«, sagte Simon, »vor etwa vier Wochen, schätze ich. Er hat mir das hier gegeben.« Sandra nahm den Koffer entgegen und drehte am Schloss herum. »Gregor ist nicht mehr aufgetaucht. Er hat gesagt, er ist nur mal kurz weg. Er ist in die Limousine gesprunge n …«
    »Was für eine Limousine?«
    »Eine schwarze.«
    »Haben Sie das Nummernschild gesehen?«
    »Nein.«
    »Ist er da freiwillig eingestiegen?«
    »Ja.«
    »Haben Sie gesehen, wer am Steuer saß?«
    »Nein.«
    Sandra ließ Simon kurz allein und kam mit Werkzeug zurück. »Machen Sie das?«
    Er nickte und stocherte am Koffer herum. Währenddessen bemerkte er Sandras Blick auf seine Haare. Ja, dachte Simon, er würde sich eine Mütze kaufen müssen. Einen Hut. Ein Kopftuch. Irgendwas. Um den Haarausfall zu kaschieren. Und die Wunden. Als der Koffer aufsprang, heuchelte er Interesse, Sandra wühlte durch die Zeitungsseiten. »Geheimfach?«, fragte sie, Simon zerschlitzte auch das Futter des Koffers. »Wir müssen das lesen«, sagte Sandra und deutete auf die Zeitungen. »Vielleicht finden wir einen Hinweis.« Das Ergebnis war enttäuschend. »Außer dem Koffer hat Gregor Ihnen nichts gegeben?«, fragte Sandra.
    »Nein«, log Simon, denn er wusste nicht, ob es gut war, Sandra in alles einzuweihen. Er war hergekommen, um rauszufinden, was es mit der Kappe auf sich hatte, aus einer Angst, die Kappe könnte ihn zu einem anderen Menschen machen, ihm Schaden zufügen. Aber war es dazu nicht schon zu spät? Und war es nicht völlig egal, was die Kappe durch ihn und mit ihm und in ihm machte? Nein, seine Angst vor der Kappe wich allmählich einer Angst um die Kappe . Er wollte sie nicht verlieren. Und so sagte er nichts von der Kappe, sondern erzählte nur ausführlich von der Begegnung mit Gregor. Sandra hörte zu, schwieg und goss Simon ein Glas Wasser ein.
    »Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«, fragte Simon.
    »Nein. Es gibt einen Brief. Von Gregor. Vor zwei Monaten lag der auf dem Tisch. Gregor schreibt, er will verschwinden. Für ein paar Monate. Ich solle mir keine Sorgen machen. Keine Polizei. Es sei alles in Ordnung. Er sei bald wieder da. Aber trotzdem: Ich mache mir Sorgen. Ich will wissen, was los ist. Und jetzt noch mehr. Nach dem, was Sie mir erzählen. Das passt nicht zu Gregor. Es muss was passiert sein. Ich habe gehofft, vielleicht im Koffer einen Hinweis zu finden. Er fliegt nach Mexiko, kommt zurück, ganz aufgekratzt, einen Tag später liegt dieser

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