Die Tarnkappe
hatte ablenken wollen, nichts weiter als eine Tarnung für die Kappe. Simon dachte lange nach, griff schließlich zum Telefon, wählte die Nummer der Auskunft, nannte den Namen Strack, Angelika, sowie seinen Geburtsort, ließ sich verbinden, begrüßte Gregors Mutter, nannte seinen Namen, und Frau Strack wusste sofort, wer er war.
»Du?«, fragte sie.
»Ja, ich«, sagte Simon.
»Was willst du?«
Es wunderte Simon nicht, dass sie ihn duzte. Für sie war er immer noch der achtzehnjährige Junge.
»Ich will Ihren Sohn sprechen«, sagte Simon.
»Warum?«
»Ein Klassentreffen.«
»Ich soll niemandem sagen, wo er wohnt.«
»Aber mir können Sie es doch sagen, Frau Strack. Was macht er denn? Wie geht es ihm?«
»Gut. Gut. Er ist reich inzwischen.«
»Lebt er in Deutschland?«
»Ja.«
»Und wo genau?«
»Ich dar f …«
»Geben Sie mir doch einfach seine Nummer. Dann kann er selber entscheiden, ob er mir sagt, wo er wohnt oder nicht.«
»Woher weiß ich denn, dass du überhaupt Simon bist?«
»Erkennen Sie meine Stimme nicht?«
»Du warst ein Kind damals.«
»Ja, wollen Sie irgendwas wissen, das nur Simon Bloch wissen kann?«
»Wie hieß denn der Junge, der damal s …«
»Carsten. Carsten Guhl.«
»Und wo hat er gewohnt?«
»Lindenstraß e 45.«
»Wie hieß deine Mutter mit Mädchennamen?«
»Agathe Strömer.«
»Mensch, die Agathe, die ist jetzt auch schon wie lange tot? Tut mir leid. So gut wie ich und Agathe, wie wir befreundet, das heißt, weißt d u … einen Augenblick.«
Der Hörer wurde hingelegt, Schritte, die sich entfernten, Schritte, die sich näherten, der Hörer wurde hochgehoben, die Stimme, die Nummer, Simon bedankte sich und legte auf, betrachtete den Zettel, auf den er die Nummer gekritzelt hatte, Gregors Nummer, er wollte sie schon ins Telefon tippen, zögerte, später, sagte er sich, nachher, jetzt nicht mehr, erst morgen rufe ich ihn an, doch schon während er dies dachte, wusste er, dass er auch morgen Gregor nicht würde anrufen können, denn wenn er ihn anriefe, müsste er ihm sagen, dass er, Simon, die Kappe gefunden hatte, und seine Angst, Gregor könnte die Kappe wieder zurückfordern, war größer als seine Neugier, herauszufinden, was es mit ihr auf sich hatte. Meine Kappe, dachte er, hob die Kappe auf, reinigte sie, meine Kappe, meine Kappe. Und hatte er nicht alles im Griff? Er konnte doch tun, was er wollte. Das Künftige lag vor ihm wie ein Meer, nach allen Seiten offen, und mitten im Meer Simon Bloch, auf seiner umgedrehten halben Nussschale, er konnte gondeln, wohin auch immer. Und dieser ätzende Schmerz beim Abnehmen der Kappe? Lächerlich! Der Schmerz ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Durch den Schmerz wird man erst lebendig. Ein Mensch ohne Schmerz ist undenkbar. Und der Körper ist nichts als das Schlachtfeld des Schmerzes. Der Körper oder der Kopf. Nein, ich muss mich freuen auf das Absetzen der Kappe. Der Schmerz ist ein Zeichen dafür, dass ich lebe, intensiv lebe, so intensiv wie nie zuvor.
15
N ach dem Telefongespräch mit Gregors Mutter fühlte Simon sich aufgekratzt. Er hatte lange mit keinem Menschen mehr gesprochen. Spürte plötzlich ein immenses Bedürfnis, genau das jetzt zu tun, stopfte die Kappe unters Hemd, klingelte bei Frau Kubelik, begrüßte sie, fragte, ob alles in Ordnung sei, sagte, dass er nach ihr habe schauen wollen, und Frau Kubelik lächelte und bat ihn herein, sie setzte sich an den Küchentisch und schnitt Löcher in ein zusammengefaltetes, schwarzes Papier. Simon blieb eine gute Stunde und trank zwei Tassen Kaffee. Diesmal war er es, der sprach und Frau Kubelik keine Gelegenheit bot, ihn zu unterbrechen. Über den Schmerz redete er, davon, dass im Schmerz geboren wird und gelebt und gestorben, er ließ sich forttreiben und sprach vom Schmerz in der Musik. Er hatte keine Ahnung, ob Frau Kubelik seinen Ausführungen folgen konnte, sie klammerte sich an ihre Scherenschnitte, und das Ratschen der Schere war eine beruhigende Untermalung für Simons Worte. Er sprach über Claudio Monteverdi, dem zu seiner Zeit vorgeworfen wurde, er breche die Regeln des klassischen Kontrapunkts, man sagte, das tue in den Ohren weh. Dabei entsprangen, so Simon, die Regelverstöße nur dem Versuch, den Text zu vertonen. Wenn es im Madrigal hieß: »Diese Qualen, die du fühlst, sind meine, nicht deine Leiden«, zauberte Monteverdi den schmerzhaften Stich in die Ohren der an die Norm gewöhnten Hörer. Simon redete eine Zeitlang so weiter,
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