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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Tarnung, unsichtbar, Nichtsehen. Ohne Erfolg. Er musste nachdenken. Sich erinnern an den Menschen Gregor, an seine Zeit mit ihm, er rief sich alles ins Gedächtnis, was er über ihn wusste und tippte nach und nach die verschiedenen Begriffe ein. Die Geburt im Bauernhof Strack, aufgewachsen als Sohn der wohlhabenden Bauern Mathilde und Franz Strack, Gregors Pony Ajax, ihr Kindergarten Villa Kunterbunt, das Versteckspiel, Gregors Fähigkeit, sich so zu verstecken, dass niemand ihn fand, seine Beharrlichkeit, das Versteck nicht zu verlassen, so sehr man ihn auch rief, er kam nie von allein hervor, und einmal hatte die Suche nach Gregor zwei Stunden gedauert, die Kindergärtnerin Klara war in heller Sorge, man fand ihn schließlich im großen Trockner im Keller, Gregor war dort reingekrochen, und er verstand nicht, weshalb man ihn ausschimpfte. Verschwinden, tippte Simon ein, Gregors Wort, das er so oft benutzte, nach der Sache mit Carsten, am liebsten würd ich verschwinden, sagte Gregor, wenn sie sich trafen und über das redeten, was geschehen war, am liebsten würd ich abhauen, ich will nicht mehr so angesehen werden, wie man mich ansieht: als Vernichter einer menschlichen Existenz. Nein, das hatte Gregor so nicht gesagt, nicht mit vierzehn, erst mit achtzehn, Vernichter einer menschlichen Existenz. Aber Gregor konnte nicht verschwinden. Noch nicht. Musste dableiben. Machte Abitur. Mit Simon an seiner Seite. Gregor hatte die Fähigkeit zur Ruhe verloren, er war nicht mehr in der Lage, stillzusitzen, ohne irgendwas zu tun: Wenn ich ruhig dasitze, sagte er, kommen die Bilder. Gregor lernte wie ein Berserker. Er las und hörte zu und verschlang bergeweise Bücher, die Lehrer waren hellauf begeistert. Damals ging es in den Schulen erst los mit Informatik, Gregors Steckenpferd, Physik, Chemie, Biologie, das Abitur eine Formalität. Simons Reaktion auf die Sache mit Carsten war die genau gegenteilige gewesen. Er hatte die Stille gesucht, als Boden für seine Musik, er hatte sich dem Träumen hingegeben, dem Rumspinnen, dem Im-Kopf-Komponieren. Er war durch die Welt gegangen und hatte allem, was ihm begegnete, Töne übergestreift. Es war klar, Simon wollte, er musste Musik studieren, während für Gregor nur Informatik und Physik in Frage kamen. Dann die Trennung: Ich kann dich nicht mehr sehen. Dieser elende Satz, der sich in Simon eingebrannt hatte wie kein zweiter, auch dieser Satz wurde vom Computer nicht angenommen.
    Ich geh nach Amerika, sagte Gregor.
    Auch in Amerika gibt’s Musik-Akademien, sagte Simon, ich komme mit.
    Nein, sagte Gregor, nein.
    Warum?
    Ich kann dich nicht mehr sehen.
    Und Schweigen. Und das saß. Und jeder Tritt in die Magengrube wäre ein Hauch gewesen gegenüber diesem Satz. Gregor sagte, immer noch sei es so: Wenn er Simon sehe, sehe er auch Carsten. Es werde immer schlimmer. Ich kann dich nicht mehr sehen. Ich will dich nicht mehr sehen. Ich muss allein weitermachen. Das hört auf hier. Du musst mich nicht zum Flughafen bringen. Ich dank dir für alles. Die Freundschaft ist hiermit beendet. Der zweite Satz, der Simon nicht losließ seit der Trennung. Simon glaubte nicht, was er hörte, auch nicht, als Gregor sich tatsächlich umdrehte, wegging, sich nicht meldete, ein Jahr, zwei Jahre, zehn Jahre, Simon glaubte es erst, als er festgestellt hatte, dass seine Filmmusik niemals den Weg zu einem Film finden würde und alles, was er komponiert hatte, nur inneren Bildern entsprach, nicht äußeren.
    Das brachte nichts. Das war sinnlos. Simon wollte schon aufstehen, als er noch eine allerletzte Idee hatte: die Begegnung mit Gregor in seiner Wohnung. Kopftuch und Strohhut tippte Simon ein, schwarzer Koffer, Alditüte, alles, was er gesehen hatte, Fahrrad, leere Kanister, Limousine, vieles von dem, was Gregor gesagt hatte. Fehlanzeige. Simon stöhnte erschöpft auf, zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch zur Decke, lehnte sich zurück, streckte die Glieder. Direkt über ihm hing ein Rauchmelder, klein, rund, mit Rillen, Simon hatte ihn bislang nicht bemerkt. Er drückte die Zigarette unterm Tisch aus und steckte sie ein. Noch mal blickte er hoch und sah einen roten Punkt unterm Plastik. Er stieg auf den Stuhl, hörte ein merkwürdiges Surren: eine Kamera, hinter der Rauchmelderfassade. Simon starrte eine Weile hin, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Dann hörte er ein Geräusch in seinem Rücken, drehte sich ruckartig um auf dem Stuhl, verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen

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