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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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und gemeinsam schleppten sie ihn zum Fenster, wuchteten ihn hinaus, ins Freie, schleiften ihn vom Friedhof ans Licht, unter eine Laterne. Sie gaben ihm Ohrfeigen, erst leichte, dann härtere, sie riefen ihm zu, er solle zu sich kommen, aber das war eigenartig, er kam nicht zu sich, er blieb, wo er war, die Augen weit offen, die Pupillen ins Innere des Schädels gerichtet, als wolle er fortan nur noch sehen, was in ihm selbst vorging, und nicht mehr, was draußen geschah, in der Welt. Rückzug auf ganzer Linie. Die weiße Fahne der Iris. Das wird schon wieder, beteten die beiden abwechselnd, um sich Mut zu machen, aber es wurde nicht wieder, nein, nicht in dieser Nacht, wo sie alles versuchten, nicht um halb zwei, als sie aufgaben und ein Krankenhaus aufsuchten, nicht am nächsten Morgen, nicht in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren, Carsten blieb, wo er war, in sich selbst gefangen, Atem nur vorgeschützt, lebendig begraben, und niemand weiß, ob er sich blutig kratzt am Sargdeckel seines Körpers, um wieder rauszufinden und teilzuhaben an dem, was bislang sein Leben gewesen war, ein Leben unter Menschen, Menschen, Menschen, und diese Menschen hören von seiner Geschichte, das Erzählte wird weitererzählt und immer wieder weitererzählt, es entwickelt ein Eigenleben, Die Mutprobe heißt die Geschichte und endet meist mit dem Tod des Opfers, wird zum Mythos, jeder hat sie schon mal gehört, keiner glaubt sie, aber Simon und Gregor sind auf ewig an sie gekettet, so wie Carsten auf ewig vor sich hinschlummern wird und sich einrichtet in seinem neuen Bewusstseinszustand, er lässt sich apathisch füttern, liegt apathisch dort, atmet apathisch ein und aus, durchpflügt in einem einzigen Blindflug sein Inneres, denn Carsten hat den Geist aufgegeben und wird noch so lange dort liegen, bis er auch den Körper aufgibt.

21
    A uf dem Weg nach obe n – Gregor in seinem Anzug, Simon in Kordhose und langärmligem T-Shirt unterm Jackett, mit Wunden am Kop f –, kratzte Simon sich bei jedem Schritt, seine Finger fischten büschelweise Haare heraus, die er fallen ließ, ohne ihnen Beachtung zu schenken, die Aufregung, das, was ihn oben erwartete, etwas, was er sich nicht vorstellen konnte, ließ ihn sich häufiger kratzen, als er bislang gewohnt war, aber das störte ihn nicht. Sie erreichten das Erdgeschoss und den ersten Stock und stiegen weiter hoch ins zweite Geschoss. Gregor drehte sich zu Simon um, als wolle er sich vergewissern, ob dieser ihm folgte. Er betrat ein Vorzimmer. »Dort schläft die Pflegerin«, sagte er, deutete auf die Tür zur Rechten, wandte sich nach links, durchquerte ein Wohnzimmer mit riesiger Fensterfront und Balkon, ehe er vorsichtig ins nächste Zimmer trat, ins Dunkle, gefolgt von Simon. An der Wand entlang tastete sich Gregor zu einer Stehlampe, deren mattes Licht er mit einem Fußdruck in den Raum fließen ließ, Fensterwände, Vorhänge, Lüster, Klavier, Teppiche, Bilder, Zimmerspringbrunnen, Anlage, Duftkerzen.
    Zuletzt ließ Simon seinen Blick frei, zum Bett.
    Im Bett lag Carsten Guhl.
    Er musste es sein.
    Wann hatte Simon ihn das letzte Mal gesehen? Was Carsten geblieben war: das Muttermal am Hals, die noch nicht ergrauten Haare, die leicht gekrümmte Nase. Carsten schlief. Das heißt, Simon hätte nicht sagen können, ob er schlief, Carstens Augen klappten manchmal auf wie Fischmäuler, als wolle er etwas sehen, im matten Schummer, der den Raum benetzte, ja, das waren Carstens Augen, grün, mit einem leichten Stich ins Graue, Mandelform. Simon wusste nicht, was er tun sollte. Mit offenen Augen schlief Carsten, den größten Teil seines Lebens hatte er schlafend verbracht, es hatte sich nichts verändert.
    »Carsten,«, flüsterte Simon.
    Es tat sich nichts.
    »Du kannst ihn nicht wecken«, sagte Gregor. »Niemand kann ihn wecken.«
    Simon hatte viel darüber gelesen. Gregor ebenso. In Phasen, in denen sie wissen wollten, was mit Carsten los war, ihrem in Bernstein erstarrten Freund. Carsten war in der Totenhalle nicht auf den Kopf gefallen. Er hatte sich nicht das Hirn lädiert. Organisch, körperlich war alles in Ordnung, es gab keine Hypoxie, nichts. Diagnosen griffen ins Leere. Psychogener oder dissoziativer Stupor nach einer heftigen emotionalen Reaktion: Das beschrieb Carstens Zustand am ehesten. Aber über einen so langen Zeitraum? Carsten war innerlich eingefroren. Er konnte essen, das heißt, man konnte ihn füttern, er konnte aufgerichtet werden, seine Gliedmaßen ließen alles

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