Die Tarnkappe
mit sich machen, wie eine Marionette mit drehbaren Gelenken, er konnte die Augen öffnen, aber sein Blick war ohne Fixpunkt, war weiß wie Schnee und durchsichtig wie Seifenblasen, sein Blick war tot wie der eines Hais und leer wie das Glas einer Murmel, sein Blick war gebrochen wie ein Schilfrohr nach einem Sturm und stumm wie das Innere einer unentdeckten Höhle, sein Blick war eiskalt wie Wasser am Meeresgrund und reglos wie der Stamm eines uralten Baums.
Simon setzte sich auf die Kante des Betts, legte Carsten die Hand auf die Brust, schloss kurz die Augen, saß in seiner Erinnerung wieder am Krankenhausbett, in den Tagen danach. Damals hatte er des Öfteren versucht, ihn ins Bewusstsein zurückzuboxen, aber nach kurzer Zeit schon hatten Carstens Eltern ihm und Gregor die Besuche verboten, spätestens nachdem sie sich ein abschließendes Bild von den Ereignissen gemacht hatten. Simon hatte ihnen gebeichtet, dass es seine Idee gewesen war, zum Friedhof zu gehen, und Gregor, der alles, was geschehen war, einfach loswerden musste, hatte haarklein geschildert, wie es dazu gekommen war, dass ausgerechnet Carsten in die Totenhalle hatte klettern müssen. Simon war damals zum Guhl-Haus geschlichen, allein, hatte lange gezögert, ehe er den Zeigefinger auf die Klingel drückte. Und als sich nichts tat, weil Carstens Mutter wohl durch die Gardinen den Seelenmörder ihres Sohns hatte kommen sehen und sich weigerte, ihm zu öffnen, als sich also gar nichts tat im Haus der Guhls, spürte Simon zum ersten Mal im Leben seine von nun an immer öfter auftauchende Lebenswut, eine hässliche Wut auf alles, was geschah und was er sah, eine Wut, die ihn damals, vorm Haus der Guhls, dazu trieb, seinen rechten Zeigefinger auf dem Klingelknopf zu lassen, zwei Minuten, drei Minuten, fünf Minuten, er hätte gar nicht sagen können, wie lange dieses Endlosklingeln gedauert hatte, bis zu dem Augenblick, da Carstens Mutter die Tür aufriss und ihn scharf ansah. Dieser Blick. Es war ein Blick wie ein Schrei. Aber sie sagte nichts. Er sagte nichts. Er hätte gern gesagt Es tut mir leid , er wäre gern in Tränen ausgebrochen, vor dem Haus der Guhls, aber es ging nicht, es blieb trocken in ihm, er sah nur diesen Blick, er verstummte vor dem Blick der Mutter, der alles genommen war, das einzige Kind, die Lebendigkeit des einzigen Kinds. Simon hätte gern eine Absolution entgegengenommen, ein Ist schon gut , aber die Lippen der Mutter blieben zugenäht. Er wäre so gern vor ihr auf die Knie gefallen, aber seine Muskeln verweigerten den Gehorsam. Die Mutter trat einen Schritt zu ihm, der dort stand, auf der Matte, er, der den Finger von der Klingel genommen hatte, dessen Hand aber noch waagrecht in der Luft hing, dessen Zeigefinger noch immer ausgestreckt zur Klingel zeigte, als säße dort eine dicke Spinne, vor der er die Mutter warnen wollte, sie trat zu ihm, mit einem einzigen, langsamen Schritt, und schlug ihm die rechte Hand ins Gesicht, keine Ohrfeige, ein Schlag, in dem ihr gesamter Trauerhass steckte, und die Mutter schloss sofort danach die Tür, Simon blieb allein draußen stehen, einige Sekunden lang, mit dem Schlag im Gesicht, ehe er sich umdrehte und wegging und nie wieder zurückkehrte. Dieser Schlag hatte ihm gut getan, der Schmerz hallte nach, legte sich wie Salbe auf sein Gewissen. Aber die Wirkung klang rasch ab, und gern wäre er jeden Morgen ins Guhl-Haus gegangen, um sich seine Salbe abzuholen, er malte sich aus, wie die Mutter ihn jeden Morgen schlagen würde, aber das war nicht möglich. Er blieb allein damit. Allein mit Gregor. Nur sie beide, die fertig werden mussten mit etwas, womit man nicht fertig werden kann, nicht mit vierzehn, nicht mit achtzehn, nicht mit fünfundzwanzig, auch nicht mit vierzig, niemals würde er das vergessen. Wenn Carsten nur tot und begraben gewesen wäre, wenn man mit allem, was geschehen war, hätte abschließen könne n – aber so? Nicht dieser lautlos vor sich hinvegetierende Körper, atmendes Mahnmal für das, was sie getan hatten, nein.
»Man hat alles versucht«, sagte Gregor und zählte auf, was die von ihm rekrutierte und besoldete Armee der Ärzte unternommen und welches Arsenal an Arznei und technischen Hilfsmitteln er beschafft hatte, schon vor Jahren, als Carsten noch bei seiner Mutter lebte, und jetzt immer noch, nachdem er hier eingezogen war, seit dem Ende von Elfriede Guhl, die siebzehn Jahre lang erfolgreich gegen die eigene Krankheit gekämpft hatte, aus dem einen und
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