Die Tarnkappe
letzten Wunsch, ihren Sohn nicht allein zu lassen, in diesem Zustand, den Gregor Tod auf Halde nannte, und so lange hatte die Mutter gekämpft, dass sie ihre Kraft plötzlich mit einem einzigen Schlag verbraucht hatte und sich drei Monate nach ihrem achtzigsten Geburtstag der Macht der Krankheit ergab und in wenigen Wochen bei lebendigem Leib zerfressen wurde, von Zellen, die nicht zu ihrem Körper gehörten.
Carsten. Ausgestreckt, Folterbank. An sich selbst gefesselt. Nicht kleinzukriegen. Nicht zu tilgen. In ihn hineinkriechen. Kurz. Einmal so werden wie er. Sehen, was er sieht. Spüren, was er spürt. Das ganze Leben ein Gang durch einen dunklen Raum. Die Hände voran gestreckt, immer tastend, suchend, immer mit Hoffnung auf einen Lichtstrahl, der doch endlich irgendwo erscheinen muss. Aber nicht erscheinen will. Der ausbleibt. Hinter den Schleieraugen die innere Biene, die noch summt, an der stumpfen Glasscheibe hochklettert, Jahr für Jahr, den Ausweg sucht, ihn nicht findet. Niemals finden wird. Ein Kaspar Hauser seiner selbst. Nicht ins äußere, sondern ins innere Dunkel gesperrt. Endlosschleife der Nervenbahnen. Nicht mehr ins Offene gerichtet, nur noch mit sich selbst verknüpft, im minimalen Raum. Und wir?, fragte sich Simon. Wen sehen wir, wenn wir Carsten sehen? Wenn wir nah an ihn herantreten, sehen wir uns selbst im Spiegel seiner Augen.
In Simons Kopf jetzt Musik. Ein Grundton, Cello, ohne Begleitung, ein C, das sich verkriechen will, ohne Entwicklung, einfach nur C, ganz allein, ohne Es und G, ohne die fehlenden zwei Drittel des Mollakkords, aber dennoch trister als ein Mollakkord es je hätte sein können. Der Cellostrich klang ohne Unterbrechung, Simon sah keinen Spieler, nur den Bogen und das Instrument, keine Hand, die den Bogen hielt, kein Knie, woran der Holzkörper lehnte. Das C wollte nicht mehr verschwinden aus seinem Kopf, und Simon fürchtete, das C würde ihn begleiten, von jetzt an, vielleicht für immer.
»Hörst du das auch?«, fragte Simon.
Doch Gregor antwortete nicht.
»Hörst du das C?«, fragte er noch einmal und sah sich zu Gregor um. Der war nicht mehr da. Nur noch der Bogen und Körper und Ton und Tod auf Halde . Simon wich zurück, immer den Blick auf Carsten gerichtet, als könne er so verhindern, dass Carsten plötzlich aufstand, ihm in die Augen sah, seinen Arm ausstreckte und sagte: Was hast du getan? Simon ging hinaus, wusste genau, wo Gregor steckte, lief die Treppe hinunter, ins Gästezimmer, sah, dass seine Sachen zerwühlt und verstreut auf dem Boden lagen, die Schubladen rausgerissen. Simon gab keinen Mucks von sich, schaute zu, wie Gregor den Schrank durchstöberte und wartete, bis der ihn bemerkte.
»Wo ist sie?«, rief Gregor.
»Sie ist nicht hier«, sagte Simon.
»Du hast sie zu Hause gelassen?«
»An einem sicheren Ort.«
»Wir müssen sie vernichten!«, rief Gregor.
»Kann man das denn?«
»Wir müssen es versuchen.«
»Und wie?«
»Ich weiß nicht. Lass uns fahren. Jetzt. Sofort. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Simon sah keine Möglichkeit, Gregor abzuschütteln. Der würde ihn nicht weglassen. Der war besessen. Der wollte die Kappe. Ob er tatsächlich die Absicht hatte, sie zu vernichten, wusste Simon nicht. Nur eins wusste er: Das einzige, was ihm, Simon, noch etwas bedeutete, war die Kappe. Das beste wäre, so zu tun, als ließe er sich auf Gregor ein, das beste wäre, er würde mit Gregor nach Hause fahren, noch heute Nacht, und am Hackethal-Haus Wache stehen, allein mit Gregor, um ihn dann, wenn sie den Umschlag aus dem Briefkasten gefischt hätten, mit einem einzigen Schlag niederzustrecken, zum Bahnhof zu laufen, denn wenn er erst mal die Kappe trüge, wäre er in Sicherheit. »In Ordnung!«, sagte Simon fest. »Wir fahren. Heute Nacht noch. Jetzt gleich. Ich bring dich hin.«
»Gut«, sagte Gregor. »Gut. Gut.«
»Unter einer Bedingung«, fügte Simon hinzu.
»Was denn noch?«
»Du sagst mir endlich, woher du die Kappe wirklich hast.«
22
S ie verließen den Raum. Nach unten ging’s, ins Erdgeschoss, und tiefer, in den Keller, hinein ins Labor, Gregor schloss die Tür hinter ihnen ab, der Laptop stand an seinem Platz, der Stuhl lag dort, umgekippt, Gregor rückte ihn zurecht, Simon stellte sich hinter ihn, gemeinsam blickten sie auf den Monitor.
»Das Passwort?«, fragte Simon.
»xc9ßU3öZt«, sagte Gregor und tippte gleichzeitig.
»Ich hab es mit Tarnkappe versucht«, sagte Simon.
»So wenig kennst du mich, mein
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