Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
Vom Netzwerk:
Zeiten das Aktivum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer. Ich wurde getan, unter der Kappe, die Kappe tat mich, ich habe Dinge, zunächst Gedanken, das kam so über mich, du wirst es wissen, musst es gespürt haben, seit wann spürst du es, da sind die Stimmen, die rufen, die sprechen, die sagen einem, was zu tun ist, die lassen nicht mehr los. Der Schmerz. Von Tag zu Tag, ich wusste ja nicht, was ich dagege n … und da kam der Gedanke: Wenn ich die Kappe nicht mehr abziehe. Ich denke, wenn der Gedanke kommt, restlos zu verschwinden, ist es schon fast zu spät. Sei ehrlich«, sagte Gregor und wurde plötzlich lähmend ruhig. »Du hast mit dem Gedanken gespielt?«, fragte er. »Unter der Kappe zu verschwinden. Für immer?«
    »Wie kommst du darauf?«, fragte Simon.
    »Ich seh es dir an.«
    »Ich hab oft dran gedacht. Aber ich hätte nie den Mut dazu. Ic h …«
    »Du bräuchtest keinen Mut dazu«, rief Gregor, »du müsstest den Verstand verloren haben!«
    »Wieso?«
    »Du existierst nur durch die Augen der anderen. Wenn niemand dich sieht, kannst du gar nicht wissen, dass es dich gibt. Du wirst das Gefühl für dich selbst verlieren, wirst dich fragen: Wer bin ich eigentlich? Bin ich überhaupt? Du wirst bald nicht mal mehr wissen, was das ist: ein Ich. Du wirst dich selbst vergessen. Du wirst aufhören zu existieren. Du wirst dich auflösen wie Salz im Wasser.«
    »Die anderen können mich nicht sehen. Aber sie können mich hören, riechen, berühren. Das ist ein Unterschied. Mein Körper bleibt greifbar. Als o …«
    »Was denkst du, wie die Menschen reagieren, wenn sie von einem Wesen angerempelt oder angesprochen werden, das sie nicht sehen können? Das machst du zweimal, dreimal, dann lässt du es bleiben, dann willst du die Gesichter nicht mehr sehen, die sich zu Tode erschrecken. Jeder, mit dem du sprichst, schreit auf. Jeder, dem du die Hand auf die Schulter legst, rennt fort. Dann bist du allein, und wenn du allein bist, bist du niemand mehr.«
    »Der Mensch kann aus sich selbst heraus existieren. Ohne die anderen. Und überhaupt: Erst dann hat er die Freiheit, sich selbst zu entdecken. Das, was er wirklich will.«
    »Du bist immer angewiesen auf die anderen. Du kannst dich nicht ausklinken aus der Welt.«
    »Und warum heißt es dann Selbst bewusstein?«
    »Das kann nie entstehen ohne die anderen. Bewusstsein ist immer auf irgendwas gerichtet. Ohne Inhalt, ohne Ziel gäbe es kein Bewusstsein. Selbstbewusstsein entsteht nicht im Kopf des Einzelnen, sondern im Austausch mit anderen, ist nicht solipsistisch, sondern sozial.«
    »Du scheinst lange drüber nachgedacht zu haben.«
    »Bewusstsein. Im Lateinischen heißt das Con scientia. Das bedeutet Mit wissen. Und nicht Allein wissen.«
    »Mitwissen mit den anderen?«
    »Ja, und viel mehr. Man hat das Mit noch anders verstanden: Conscientia bedeutet nicht nur Bewusstsein, Selbstbewusstsein, sondern auch Gewissen. Das Wissen um das eigene Wissen und das Mitwissen um die eigene Schuld.«
    Simon schwieg. Er sah auf die Tachonadel, die sich der 160 näherte. Gregor hatte das Gaspedal bis zum Anschlag gedrückt, und er fuhr genauso schnell wie er redete, nur nicht anhalten, nur nicht anhalten.
    »Wo müssen wir eigentlich hin?«, fragte Gregor jetzt.
    »Ich sag’s dir.«
    »Zu dir nach Hause?«
    »Nein.«
    »Wo hast du sie versteckt?«
    »Hab Geduld.«
    »Vertrauen klingt anders.«
    »Wir müssen zur Liebknechtstraß e 57.«
    »Wer wohnt dort?«
    »Ein Mädchen.«
    »Ihr Name?«
    »Miriam Hackethal.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Sie ist unglücklich, aber weiß es nicht.«
    »Du hast die Kappe dort versteckt?«
    »Nicht direkt.«
    »Sondern?«
    »Sie wird einen Brief bekommen.«
    »Du hast ihr die Kappe per Post geschickt?«
    »Nicht die Kappe.«
    »Sondern?«
    »Einen Schlüssel.«
    »Zu einem Schließfach?«
    »Du sagst es.«
    »Wo befindet sich das Schließfach?«
    »In der Sparkasse«, log Simon.
    Jemand muss endlich den Auftrag der Kappe annehmen: der Auserwählte, dachte Simon. Und dann fiel er in einen Dämmer. Und der Dämmer schickte ihm ein glühend scharfes Bild, das ihn zusammmenfahren ließ. Es war das Bild des apathischen Carsten Guhl, der vor sich hin vegetiert wie ein Wurzelstock und in seinem Vegetieren ganz plötzlich aufsteht, einmal nur aufsteht in seinem verschlafenen Leben, vor kurzem muss es gewesen sein, vor zwei Monaten, in Gregors Villa, da steht Carsten einfach auf, aber nur für ein paar Sekunden ist er

Weitere Kostenlose Bücher