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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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nicht der kommandierende Major, dessen Pflicht es gewesen wäre, dem Abmarsch der Truppe beizuwohnen. Sergej nahm die Missachtung mit einem Achselzucken zur Kenntnis, denn auf die Ehrenbezeugung einer solch jämmerlichen Figur wie diesem Kommandanten konnte er verzichten. Er drehte sich im Sattel, um zu sehen, welches Bild seine Hilfstruppe abgab. Hinter ihm ritt Bahadur mit einer solch lockeren Selbstverständlichkeit, als sei er es von jeher gewohnt, das in einen Fahnenschuh gestellte Banner mitzuführen. Ihm folgten Wanja und Kang, der im Sattel genau das Bild abgab, das sich der russische Bauer von einem Angst einflößenden Steppenteufel machte, und der Rest der Männer, die ihre Reihenerstaunlich geschlossen hielten, aber eher einer Horde Dämonen glichen als lebenden Menschen.
    Sergejs schlechte Laune verflog schlagartig, als er sah, wie sich die vermissten Reiter wieder in die Truppe einreihten, und er empfand nun doch einen gewissen Stolz, zum Anführer dieser Männer ernannt worden zu sein. In Sibirien hatte er Kosaken befehligt, die nicht minder eigenwillig waren als diese Asiaten, und er hatte sich bei ihnen Respekt und Gehorsam verschafft. Warum sollte es diesmal anders sein? Als sein Blick auf einen der Nachzügler fiel, der nun dicht hinter seinem Häuptling ritt, entdeckte er den Grund des kurzzeitigen Verschwindens und musste sich ein Lachen verkneifen, denn am Sattelknauf des Mannes hingen zwei erwürgte Hühner. Anscheinend hatten er und seine Kameraden den Bauern der Umgebung einen letzten Besuch abgestattet und alles geplündert, was sie hatten entdecken können. Sergej empfand deswegen keine Gewissensbisse, denn da die russische Heeresverwaltung es versäumt hatte, die Angeworbenen mit Vorräten auszustatten, blieb den Männern gar nichts anderes übrig, als sich die Nahrungsmittel dort zu holen, wo sie sie fanden. Für fünfhundert Leute zu furagieren würde auch in den nächsten Wochen ein Problem darstellen, aber das bereitete ihm noch die geringsten Sorgen. Der Erfolg seines Ritts hing weniger von den Nahrungsmitteln ab als von der Entscheidung, auf welchem Weg er seine Truppe nach Karelien führen sollte.
    Er konnte westlich des Ladogasees bleiben und oberhalb von Sankt Petersburg über die Newa setzen oder um ihn herumreiten. Für die zweite Strecke würde er jedoch mindestens eine Woche länger brauchen. Nun bedauerte er, dass er niemand bei sich hatte, mit dem er sich beraten konnte. Wanja würde sich immer seiner Meinung anschließen, und Bahadur war fremd hier und völlig unerfahren. Einen der asiatischen Unteranführer zu fragen, verbot sich von selbst. Für diese Leute hatte ein russischer Offizier nach der offiziellen Lesart der Armee unfehlbar zu sein.
    Bei der Erinnerung an den Vortrag über die Behandlung eingeborener Hilfstruppen, den Oberst Mendartschuk ihm und den anderen Offizieren zu Beginn ihrer Mission gehalten hatte, musste Sergej nachträglich noch schmunzeln. Niemand war unfehlbar, nicht einmal der Zar, auch wenn niemand im weiten Russischen Reich dies offen auszusprechen wagte. Wenn er Erfolg haben wollte, musste er sich darauf einstellen, dass die Kalmücken und Baschkiren auf Raub aus waren und harte Kämpfe eher meiden würden. Diese Tatsache entschied über sein Vorgehen, denn er konnte sicher sein, dass schwedische Spione die Newa überwachten und jeden Trupp, der sie überquerte, an Lybecker weitermelden würden. Schlug er jedoch den Bogen um den Ladogasee, würden sie Finnland erreichen, bevor die Schweden von ihrer Existenz erfuhren. Dann standen sie im Rücken des feindlichen Heeres und konnten Tross und Nachschub attackieren. Zufrieden mit seiner Entscheidung lenkte Sergej seinen Braunen nach Nordosten.
    Der Boden war noch hart gefroren und ließ die Reiter rasch vorankommen, doch Sergej wusste, dass sich in wenigen Wochen hier ein schier endloser Sumpf erstrecken würde, in den sich höchstens noch jene Jäger wagten, die die kaum erkennbaren Pfade kannten. Für Reiter oder gar für die Trainwagen der Schweden gab es dann kein Durchkommen mehr. Bis es so weit war, würden er und seine Leute aber schon mitten in Finnland stecken und einen giftigen Stachel in General Lybeckers Fleisch bilden.

FÜNFTER TEIL

Im Krieg

I.
    Der Winter war einem regnerisch-kalten Frühjahr gewichen, und Schirin fühlte sich so elend wie noch nie in ihrem Leben. Sie war müde und unglaublich schmutzig, obwohl ihre Kleider so nass waren, als hätte sie in ihnen gebadet. Aber die

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