Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
äußeren Umstände machten ihr weniger zu schaffen als die Ereignisse der letzten Wochen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die kleinen, finnischen Dörfer mit ihren meist dunkelrot bemalten Holzhäusern und Ställen vor sich und Menschen in fremdartig bunten Trachten, die ihnen zunächst verwundert entgegengeblickt hatten und dann in Panik ausgebrochen waren.
    Sergejs Steppenkrieger waren johlend über die Leute hergefallen und hatten es wie ein Fest genossen, ihre Säbel in die Rücken Fliehender zu bohren und vom kleinen Mädchen bis zur halbgelähmten Greisin jedes weibliche Wesen zu vergewaltigen. Wo sie gehaust hatten, waren Leichen und niedergebrannte Häuser zurückgeblieben. Die Satteltaschen der Reiter waren mittlerweile prall gefüllt und die Ersatzpferde ebenso wie die erbeuteten Tiere so schwer beladen, dass sie die Geschwindigkeit der Truppe behinderten. Diese Art von Kriegszug gefiel den Männern, und sie zeigten deutlich, wie hoch sie ihren russischen Anführer schätzten.
    Nach Sergejs Planung hätten diese Überfälle die Versorgung von Lybeckers Heer stören und seinen Vormarsch bremsen sollen, doch er hatte den Schweden falsch eingeschätzt. Der General hatte nicht einmal den Versuch unternommen, gegen die kleine Steppenhorde vorzugehen, sondern seine Vorbereitungen planmäßig vorangetrieben und sich vor wenigen Tagen in Marsch gesetzt. Spätestens in einem Monat würde seine Armee vor Sankt Petersburg stehen.
    Sergej schickte Spähreiter aus, die das unwegsame Gelände erkundenund die eigenen Leute nach Südwesten leiten sollten. Allerdings war ihm schon ohne die Berichte dieser Männer klar, dass er weite Umwege würde in Kauf nehmen müssen, wenn sein Trupp von den Schweden nicht entdeckt werden sollte. Dabei durfte er jedoch nicht den Anschluss an den Feind verlieren. Während des Ritts, der Mensch und Tier das letzte Quäntchen Kraft abforderte, fluchte er ausgiebig vor sich hin.
    »Wir werden andere Saiten aufziehen müssen!«, sagte er unvermittelt zu seinem Wachtmeister.
    Wanja blickte ihn erwartungsvoll an. »Was können wir denn noch tun, Sergej Wassiljewitsch?«
    »Wenn wir die Schweden aufhalten wollen, müssen wir Lybeckers Heer direkt angehen.« Sergej streifte seine Schar mit einem skeptischen Blick, denn die schwedischen Soldaten würden sich mit anderen Mitteln zur Wehr setzen als mit Dreschflegeln und Mistforken. Aber er musste alles tun, was in seiner Macht stand, um Sankt Petersburg zu retten, denn wenn die Stadt fiel, waren die Tage Pjotr Alexejewitschs gezählt und damit auch die seinen. Unter einem Zar Alexej Petrowitsch war für ihn kein Platz in der Armee, dafür würden Kreaturen wie Kirilin schon sorgen.
    Er rief Kang zu sich. »Sende weitere Späher aus, die das schwedische Heer überwachen sollen. Ich will sofort informiert werden, wenn sich kleinere Truppen davon abspalten.«
    Der Kalmücke wählte die Reiter mit den ausdauerndsten Pferden aus und schickte sie los. Sie würden nur ein paar Stunden brauchen, um zu dem Heereszug der Schweden aufzuschließen, der seitlich vor ihnen auf einem Bohlenweg dahinzog, den ihre Vorhut Tag für Tag weiterbaute. In den Sümpfen, durch die die Schweden sich wie ein gigantischer Wurm auf einer selbst gemachten Straße voranschoben, hatte Sergej bisher keine Chance für einen Überraschungsangriff auf die Nachhut oder eine nächtliche Attacke gefunden. Zwar zwang das grundlose Land den Feind, in einer einzigen dünnen Linie den schmalen, hölzernen Pfad entlangzumarschieren, aber es bot ihm auch einengewissen Schutz vor Reiterangriffen. Im Unterschied zu den Schweden hatte Sergej keine wegkundigen Führer, die Stellen hätten zeigen können, die für einen Überfall ebenso geeignet waren wie für einen schnellen Rückzug, denn wenn die Pferde im weichen Boden einsanken, stellten sie und ihre Reiter ein leichtes Ziel für die feindlichen Musketen dar. Wenn er nicht als Versager und Spottfigur enden wollte, musste er diese Schwierigkeiten überwinden.
    Schirin hatte viel näher liegende Sorgen als ihr Hauptmann, denn sie spürte, wie ihre Blase sich meldete, und lenkte Goldfell beiseite. Jedes Mal, wenn sie abstieg, um sich zu erleichtern, stand sie Todesängste aus, denn die Sinne der Männer waren durch die gelungenen Überfälle erhitzt, und das Schicksal der finnischen Frauen hatte ihr vor Augen geführt, was ihr bei einer Entdeckung bevorstand. Einen der Kerle würde sie sich mit der Pistole von Leib halten können, einen

Weitere Kostenlose Bücher