Die Tatarin
gegenüberstand, sondern ein Schwindler. Aber auch er hielt die Russen für halbe Tataren und nahm daher Schirins Erzählungen für bare Münze. Als sie geendet hatte, zupfte er erregt an seinem gezwirbelten Schnurrbart und nickte dem angeblichen Wladimir Safronowitsch Buturlin mit verkniffener Miene zu.
»Du wirst mein Gast bleiben, bis alles geklärt ist. Bergquist, sorge dafür, dass Prinz Buturlin gut untergebracht wird und es ihm an nichts mangelt. Er bleibt vorerst unter Bewachung und darf das Lager nicht verlassen!«
Während der Major auf den Russen, der sich als Prinz entpuppt hatte, zutrat und ihn höflich bat, ihm zu folgen, begriff Schirin mit Entsetzen, dass Sergejs Plan nur zur Hälfte aufgegangen war. Genauwie er hatte sie angenommen, dass es nicht schwierig sein würde, in der Nacht aus dem Lager zu schleichen und sich ein, zwei Tage in dem unwegsamen Gelände zu verbergen, bis die Steppenreiter ihr zu Hilfe kommen konnten. Die beiden baumlangen Grenadiere, die Bergquist jetzt zu ihrer Bewachung abkommandierte, sahen jedoch ganz so aus, als würden sie sie nicht einmal allein zu den Latrinen gehen lassen, und das war ihr zweites Problem. In Sergejs Trupp hatte sie mit Kitzaqs Hilfe ihr wahres Geschlecht verbergen können. Hier aber war sie ganz auf sich allein gestellt, und das inmitten feindlicher Krieger, deren Misstrauen schier mit Händen zu greifen war. Es war ihr zwar gelungen, ihren Auftrag zu erfüllen, doch nun war sie eine Gefangene der schwedischen Ungeheuer und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich aus dieser Klemme befreien konnte.
Währenddessen kehrte Lybecker bedrückt zu seinen Offizieren zurück, die ebenso neugierig wie besorgt waren zu erfahren, was dieser junge Russe ihrem General erzählt haben mochte.
Und die nächste schlechte Nachricht folgte auf dem Fuß. Ein Major der Pioniere, die für den Bau der Bohlenwege verantwortlich waren, trat vor und salutierte.
»Ich bitte um Verzeihung, Herr General, aber ich würde davon abraten, auf geradem Weg weiterzuziehen. Ich bin vorhin ein Stück den Sumpf entlanggeritten und habe festgestellt, dass er sich etliche Meilen weit vor uns erstreckt und weiter vorne in eine von Mooren durchzogene Seenlandschaft übergeht. Ich befürchte, unsere Vorräte an Pfosten und Bohlen werden nicht ausreichen, um ihn zu überwinden.«
»Söderström hat Recht«, stimmte ihm einer der Artillerieoffiziere zu. »Wir haben schon acht unserer schweren Geschütze durch diesen verdammten Überfall der russischen Tataren und drei weitere durch Unfälle verloren. Wenn wir allzu viel riskieren, stehen wir mit leeren Händen vor dieser verdammten Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg.«
Lybecker nickte ernst. Das war ein Gedanke, der ihn schon seit Tagen wie ein Albtraum verfolgte. Es half ihnen nichts, mit zu geringer Artillerie vor Sankt Petersburg zu erscheinen und selbst in die Mäuler der Festungskanonen zu starren, und nun musste er auch noch die Kanonen der russischen Schiffe ins Kalkül ziehen und die beiden Holländer, von denen dieser Buturlin gesprochen hatte. Auch wenn sie nur durch Eichenwände geschützt wurden, entwickelten sie eine verheerende Feuerkraft, die die seiner eigenen Artillerie weit übertreffen musste.
»Über welche Kaliber verfügt ein holländisches Linienschiff?«, fragte er, ohne auf die Bemerkungen seiner Untergebenen einzugehen. Seine Offiziere sahen sich verblüfft an und traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Erst auf Lybeckers Räuspern bequemte sich einer dazu, Antwort zu geben. »Etwa dreißig Vierundzwanzigpfünder, dazu fast dieselbe Anzahl Sechsunddreißigpfünder und noch etliches an leichteren Geschützen.«
Lybecker zuckte sichtlich zusammen. Bei diesen Kräfteverhältnissen durfte er es auf keinen Fall zulassen, dass sein Heer unter den Beschuss der russischen Ostseeflotte geriet oder gar zwischen ihr und der vom Zaren geführten Nordarmee, die bei Schlüsselburg lauern sollte, eingeschlossen wurde. Unter diesen Umständen erschien ihm der unwegsame Sumpf, der einen direkten Vormarsch auf Sankt Petersburg verhinderte, wie ein Zeichen des Himmels. Zu gerne hätte er seinen König um Rat und neue Befehle gebeten, denn Carl XII. wusste genau, wie man diesen Russen beikommen konnte. Da aber die gesamte Verantwortung auf ihm ruhte, musste er selbst eine Entscheidung treffen. Sankt Petersburg direkt anzugreifen schien ihm unmöglich, aber vielleicht gab es ja noch eine andere
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