Die Tatarin
schlechter Feldherr gelten, so würde seine Anwesenheit die russischen Soldaten zu Höchstleistungen anspornen. Nervös wandte er sich dem Fürsten Buturlin zu und packte ihn bei der Schulter.
»Wie stark sind die Truppen des Zaren, sagtest du?«
»Gjorowzews alte Nordarmee und die gesamten Reserven aus Mos kau, die er in Marsch setzen konnte.« Schirin vermied es, Zahlen zunennen, und überließ es Lybeckers Phantasie, das sich ihm nähernde Verhängnis auszumalen. Wie schon bei seiner Entscheidung, nicht sofort gegen Sankt Petersburg zu marschieren, fühlte der General die Verantwortung wie Mühlsteine auf seinen Schultern lasten, die Angst zu versagen drückte ihm schier die Luft ab. Es gab in seinen Augen nur eine Möglichkeit, die Armee des Zaren zu blockieren, bevor sie seinen Truppen gefährlich werden konnte, und dafür musste Schlüsselburg so schnell wie möglich in schwedische Hände fallen.
Lybecker überstellte seinen Gefangenen wieder Bergquists Obhut und stapfte in einer kämpferischen Geste am Ufer entlang. Einige russische Soldaten schossen mit ihren Musketen auf ihn, ohne ihn zu treffen. Die Kanonen der Festung aber schwiegen, als wäre ihnen der einsame Mann am Ufer nicht das Pulver wert, das sie für ihn verschießen müssten.
Lybecker hatte gehofft, die Festung im Handstreich nehmen zu können, doch sie wirkte weitaus wehrhafter, als er erwartet hatte. Nach einer Weile kehrte er zu seinen Leuten zurück und sah die fragenden und zweifelnden Blicke seiner Offiziere auf sich gerichtet. »Sollen wir Befehl geben, ein Lager aufzuschlagen, Herr General?«, fragte sein Adjutant.
Lybecker nickte und zeigte auf eine Stelle am Seeufer. »Tut das! Vorher aber richtet den Pionieren aus, sie sollen dort drüben den Untergrund befestigen, damit wir unsere Geschütze auffahren können. Morgen früh will ich das Donnern unserer Kanonen hören.«
Sein Adjutant lächelte, als hätte er einen guten Witz gehört, und verschwand. Kurz darauf hallten scharfe Befehle über das Heer. Die Unteroffiziere und Quartiermeister der einzelnen Kompanien schwärmten aus, um die besten Stellen für die Zelte auszusuchen, während die Pioniere ihre Schaufeln, Äxte und Pickel zur Hand nahmen und in der Nähe eines von den Russen niedergebrannten Hauses begannen, aus Holzbohlen mehrere Plattformen zu errichten, die das Gewicht und den Rückstoß der Kanonen sicher auffangenkonnten. Schanzkörbe wurden aufgebaut, die die Geschützbedienungen vor feindlichem Musketenfeuer schützen sollten. Den Kanonen der Festung schenkten sie hingegen wenig Beachtung. Es war allgemein bekannt, dass Verteidigungsbauten dieser Art nicht mit schweren Geschützen versehen waren, weil diese so teuer waren, dass es sich von selbst verbot, sie jahre- und jahrzehntelang nutzlos vor sich hin rotten zu lassen. Doch sie kannten den russischen Zaren nicht.
In der ersten Morgendämmerung des nächsten Tages wurden die Schweden durch das Krachen der Kanonen auf den Festungswällen geweckt. Wie viele andere sprang auch Schirin schlaftrunken auf und wollte aus dem ihr zugewiesenen Zelt laufen, das sie zu ihrer Erleichterung allein bewohnte. Im letzten Moment fiel ihr jedoch ein, dass sie, um besser schlafen zu können, ihr Brustband gelöst hatte. Zu ihrem Leidwesen war ihre Oberweite im letzten halben Jahr fülliger geworden und ließ sich nur noch mit Mühe einschnüren. Während sie ihren Busen bändigte, fragte sie sich, was draußen los sein mochte. Sie hörte zornige Schreie und sich überschlagende Befehle, die sie wohl auch dann nicht verstanden hätte, wäre sie des Schwedischen mächtig gewesen. Obwohl sie darauf brannte, mehr zu erfahren, zog sie sich sorgfältig an, bevor sie das Zelt verließ. Der Posten, der sie bewachen sollte, war verschwunden, und es herrschte schiere Panik unter den Soldaten. Für einen Augenblick erwog sie, das Chaos zur Flucht zu nutzen, und versuchte, sich unauffällig zum Rand des Lagers zurückzuziehen, als ihr bewusst wurde, dass sie ohne Pferd schnell wieder eingefangen werden würde. Ärgerlich kehrte sie zu ihrem Zelt zurück und sah Bergquist auf sich zukommen.
»Was ist geschehen?«, fragte sie den Major.
»Diese verdammten Russen haben noch während der Dämmerung unsere Geschützstellungen unter Feuer genommen und zusammengeschossen! Wir haben mindestens die Hälfte unserer schweren Rohre verloren und etliches an Pulver und Kugeln, so dass wir keine lange Belagerung mehr riskieren können.«
Schirin musste
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