Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
sich zwingen, ein besorgtes Gesicht zu machen und einen Fluch auf den Zaren auszustoßen, wie es von einem Verräter erwartet wurde. Innerlich aber jubelte sie, ohne daran zu denken, dass sie vor nicht allzu langer Zeit die Russen als Feinde und die Schweden als mögliche Verbündete angesehen hatte, denn an diesem Tag fühlte sie sich als Teil der russischen Armee.
    »Das ist wirklich fatal!«, bekräftigte sie ihren Fluch.
    »Das kannst du schriftlich haben!« Bergquist, der an diesem Morgen bei weitem nicht so prächtig aussah wie sonst, drohte mit der Faust zur Festung hinüber und entschuldigte sich, weil er sich um sein Bataillon kümmern müsse.
    »Geht und tut Eure Pflicht!«, antwortete Schirin scheinbar verständnisvoll, und während der Major mit langen Schritten davonstiefelte, schlüpfte sie in ihr Zelt. Sie zog den Eingang sorgfältig zu, setzte sich auf ihr Feldbett und barg das Gesicht in den Händen, um nachzudenken. Sergejs Plan war auf der ganzen Linie aufgegangen. Lybecker verfügte nur noch über ein paar einzelne Belagerungsgeschütze und konnte es nicht mehr wagen, gegen Sankt Petersburg vorzugehen, zumal ihm eben sehr drastisch vor Augen geführt worden war, wozu russische Kanonen und Kanoniere fähig waren. Nun musste er annehmen, dass die Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg ebenso gut wie Schlüsselburg bestückt war, und zudem noch die Kanonen der russischen Flotte fürchten.
    Schirin ahnte nicht, dass der unerwartet heftige Widerstand Lybecker noch stärker zu schaffen machte, als sie annahm. Seine Armee war mit vierundzwanzigtausend Mann stark genug, es mit der doppelten Anzahl von Russen aufnehmen zu können, wenn er ihnen auf freiem Feld gegenüberstand. Mit ihr hätte er immer noch die Möglichkeit gehabt, Sankt Petersburg einzuschließen und Stück für Stück zu erobern, wenn er die Peter-und-Paul-Festung umging. Aber in seinen Gedanken spukte die russische Flotte herum, die ihn durch die zahllosen Wasserstraßen und Kanäle der Stadt verfolgen konnte, und er zog nicht ins Kalkül, dass Zar Peters Schiffe ohneNachschub nichts anderes übrig bleiben würde, als nach Narwa zu segeln, so dass er die Festung nach Belieben aushungern konnte. Aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen nahm er an, dass der Zar mit seiner Armee nicht in der Nähe auf ihn lauerte, sondern um den Ladogasee herummarschierte, um in seinen Rücken zu gelangen, so wie jene lästige Streifschar, die in Karelien gewütet und ihn die ersten Kanonen gekostet hatte.
    Lybecker sah seine Nachschubwege und Rückzugsmöglichkeiten bedroht und glaubte Gefahr zu laufen, von den Truppen des Zaren eingeschlossen und gegen die Newa gedrückt zu werden. Wenn es den Russen gelang, sie auch nur ein Stück zurückzuwerfen, musste sein Feldzug in einer Katastrophe enden, die jene der Russen bei Narwa bei weitem übertreffen konnte. Einige Augenblicke erwog Lybecker, den Kriegszug zu beenden und sich mit seinem Heer nach Finnland zurückzuziehen. Aber in dem Fall würde Carl XII. seinen Kopf fordern.
    Kurz entschlossen rief er seinen Stab zusammen und erklärte den erstaunten Offizieren, dass das Heer auf schnellstem Wege die Newa überqueren und dann ins Baltikum weiterziehen müsse. »Wir müssen unsere Belagerungsartillerie erneuern und Kontakt mit unserer eigenen Flotte aufnehmen. Im Herbst oder spätestens im nächsten Frühjahr kehren wir nach Sankt Petersburg zurück und erobern die Stadt in einer gemeinsamen Aktion mit unserer Marine. Unterdessen wird Seine Majestät die Muschik-Horden des Zaren geschlagen haben und in Moskau eingezogen sein. Ich sage euch, im nächsten Jahr wird unsere Fahne sowohl über dem Kreml wie auch über der Peter-und-Paul-Festung von Sankt Petersburg wehen.«
    Lybecker blickte in die Runde und sah in viele erleichterte, aber auch einige skeptische Gesichter. Die meisten seiner Untergebenen schienen auf einen Erfolg des Königs zu hoffen, der einen weiteren Kriegszug nach Sankt Petersburg unnötig machen würde. Einige aber hätten Lybecker am liebsten am Kragen gepackt und ihn solange geschüttelt, bis er den Befehl erteilte, sofort gegen Sankt Petersburg zu ziehen. Gewohnt, in einem Heer zu dienen, in dem mit Carl XII. ein einziger Mann befahl und alle anderen gehorchten, wagten sie jedoch keinen Widerspruch, denn der König selbst hatte Lybecker zu ihrem Kommandanten ernannt und ihm die Aufgabe übertragen, das Heer zu führen.

VII.
    Sergejs Trupp folgte dem feindlichen Heer in gebührendem

Weitere Kostenlose Bücher