Die Tatarin
Abstand. Als die Schweden an der Stelle, an der Schirin auf sie gestoßen war, nach Südosten abschwenkten, fragte der Hauptmann sich, ob seine List wohl gegriffen hatte oder ob die Feinde nur die Richtung geändert hatten, um den Sumpf zu umgehen. Als der Weg wieder fester wurde und die Schweden immer noch nach Süden zogen, atmete er auf.
»Bahadur scheint es geschafft zu haben!«, rief er Wanja und Kitzaq zu, die hinter ihm ritten.
»Bahadur ist ein heller Kopf und kann die Schweden mit dem kleinen Finger an der Nase herumführen«, antwortete Wanja lachend.
»Bahadur ist darin noch besser, als du dir vorstellen kannst.« Kitzaq grinste bei diesen Worten. Eine junge Frau, die einem so findigen Offizier wie Sergej ein Dreivierteljahr lang einen jungen Burschen vorspielen konnte, war schon etwas Besonderes. Aber alle Schläue und List würden ihr nicht aus der gefährlichen Situation heraushelfen, in der sie jetzt schwebte. Sie befand sich in der Hand von Feinden, die Scheußliches mit ihr anstellen würden, sobald sie dem angeblichen russischen Prinzen zu misstrauen begannen, ihn als Spion ansahen und bei der unausweichlich stattfindenden Folter die Wahrheit entdeckten.
»Aber er ist kein Dschinn«, fuhr er fort, »der sich nach gelungener Tat in Luft auflösen kann. Was habt Ihr geplant, Hauptmann? Wie soll er den Schweden rechtzeitig entkommen?«
Kitzaqs Frage traf Sergejs wunden Nerv, denn er hatte gehofft, dass Bahadur die Gelegenheit finden würde, aus dem schwedischen Lager zu verschwinden. Nun jedoch musste er einsehen, sehr blauäugig gewesen zu sein. Wie jeder gute Kommandeur behielt Lybeckerden Mann, der ihm Nachrichten aus dem feindlichen Heerlager überbracht hatte, so lange bei sich, bis sich der Wahrheitsgehalt der Botschaft erwiesen hatte. Und das bedeutete, dass sein Fähnrich in Lebensgefahr schwebte.
Sergej schimpfte sich nicht zum ersten Mal einen hirnlosen Narren, der das Leben eines halben Kindes aufs Spiel gesetzt hatte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass ein anderer Kommandant den Jungen ohne Gewissensbisse geopfert hätte, denn wenn die Schweden auf diese Weise von Sankt Petersburg abgelenkt wurden, bedeutete das die Rettung vieler anderer Leben. Er aber sah es als seine Pflicht an, Bahadur zurückzuholen. Mit einer Grimasse, die ein wenig entschuldigend wirkte, sah er Kitzaq an. »Wir werden Bahadur da herausholen müssen. Hilfst du mir dabei?«
Der Tatar nickte zustimmend. »Aber ja! Schließlich trage ich auch einen Teil Schuld, dass Bahadur sich in dieser Klemme befindet. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass meine Schwester ihn euch Russen als Geisel ausliefert.«
Sergej blickte ihn verwundert an. »Ist Bahadur denn nicht der älteste Sohn Möngür Khans?«
»Sagen wir, er ist nicht der Lieblingssohn meiner Schwester«, wich Kitzaq einer direkten Antwort aus.
»Auf alle Fälle ist er mir lieber als das ganze restliche Gesindel, das wir nach Westen gebracht haben.« Wanja vergaß dabei ganz die Gefühle, die er damals gegen den in seinen Augen starrsinnigen Tatarenjüngling gehegt hatte, denn in der Zwischenzeit hatte Bahadur sich als prachtvoller Kamerad entpuppt, mit dem er seinem Gefühl nach den Wodka des Zaren aus dem Kreml würde stehlen können.
»Wir bleiben den Schweden so nahe wie möglich auf dem Pelz und lauern auf eine gute Gelegenheit«, erklärte Sergej, obwohl er nicht den Schimmer einer Idee hatte, wie sie Bahadur aus einem Heer von mehr als zwanzigtausend Mann herausholen sollten. Er würde auf Glück und Zufall bauen müssen und war bereit, jedes Risiko einzugehen.
»Du bist ein tapferer Krieger, russischer Häuptling«, lobte Kitzaq ihn in einem Ton, dem Sergej nicht entnehmen konnte, ob die Worte ironisch gemeint waren oder nicht. Aber solange der Tatar ihm durch die Hölle folgen würde, um Bahadur zu befreien, konnte er seinetwegen sagen, was er wollte.
VIII.
Sergej und seine Leute kamen rechtzeitig an, um das Debakel der Schweden vor Schlüsselburg aus sicherer Entfernung zu beobachten. Trotz seiner Angst um Bahadur konnte der Hauptmann seine Zufriedenheit nicht verhehlen. Jetzt lernten die, die sich stolz Löwen aus Mitternacht nannten, dass dem russischen Bären kräftige Zähne gewachsen waren. Für einen Moment erwog er, die Verwirrung im schwedischen Lager für einen Befreiungsversuch zu nutzen. Aber seine Leute waren nicht in der Position, ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver in Szene setzen zu können, und die schwedischen Unteroffiziere
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