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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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erleichterte ihm die Aufgabe nicht gerade, denn er musste ebenso auf seine Füße achten wie auf einzelne Soldaten, die teilweise schlaftrunken zwischen den Zelten herumtorkelten und offensichtlich den Weg zur Latrine suchten. Die leise Unterhaltung zweier Männer warnte ihn frühzeitig und ließ ihn innehalten. Er lauschte, umdie Richtung zu erkennen, in der sie standen, und schlich vorsichtig näher. Im ersten Augenblick glaubte er sich am Ziel, denn vor ihm stand ein größeres Zelt, das von zwei Soldaten bewacht wurde. Einen Augenblick fragte er sich, wie er unbemerkt eindringen konnte, schalt sich dann aber einen Narren. Die Größe und die beiden Wachen deuteten nicht auf einen Gefangenen hin, sondern auf einen hohen Offizier, vielleicht sogar auf Lybecker selbst. Verärgert, weil er sich hatte ablenken lassen, suchte er weiter und wurde ganz in der Nähe fündig. Das Zelt, das er für das richtige hielt, war kleiner als die umstehenden und der Eingang von außen verschnürt, wie er im Schein des kleinen Feuers davor erkennen konnte. Auch drehte der Mann, der dort Wache hielt, sich immer wieder um, als müsse er sich vergewissern, dass niemand auszubrechen versuchte.
    Sergej überlegte einen Augenblick, ob er den Wächter töten sollte. Da er jedoch nicht so kaltblütig handeln konnte wie Kitzaq, würde er höchstwahrscheinlich Lärm machen und das Lager alarmieren. So schlich er zur kaum beleuchteten Rückseite des Zeltes, nahm seinen Dolch und schnitt ein Loch in den Stoff, das gerade groß genug war, ihn hindurchkriechen zu lassen. Innen war es so dunkel wie in einer Gruft. Sergej schlüpfte hinein und begann mit seinen Händen zu tasten. Er konnte nur hoffen, dass Bahadur ihn nicht durch einen überraschten Ausruf verriet.
    Schirin hatte bereits geschlafen, als ein leises Geräusch sie weckte. Es klang, als streiche jemand mit der Hand an der Zeltwand entlang. Ihr Herz klopfte bis in die Kehle, als sie kurz darauf das gepresste Atmen eines Menschen hörte, der sich anscheinend den Weg in ihr Zelt bahnen wollte. Hatte einer der Schweden Verdacht geschöpft, dass sie in Wirklichkeit ein Mädchen war, und wollte sich nun davon überzeugen, ob er Recht hatte, und es in seiner Gier ausnützen? Im ersten Augenblick überlegte sie, laut nach der Wache zu rufen, doch der Gedanke, dass auch dieser Soldat und danach weitere Schweden wie Tiere über sie herfallen würden, hielt sie davon ab. Ihre Hände tasteten nach dem Essnapf, dem einzigen Gegenstand,der sich irgendwie als Waffe verwenden ließ, als ihr einfiel, dass der heimliche Versuch, in ihr Zelt zu kommen, auch etwas anderes bedeuten konnte. Sie wartete, bis sie einen Schatten in das Zelt steigen sah, und versuchte, ihn zu erkennen. Kitzaq konnte es nicht sein, denn der war kleiner. Von der Hoffnung getrieben, trat sie auf ihn zu und legte ihm die linke Hand auf die Schulter. Gleichzeitig aber glitt die Rechte zu seinem Gürtel, um ihm notfalls den Dolch entreißen zu können.
    »Sergej, bist du es?«
    Sergej atmete erst einmal tief durch, bevor er Antwort gab. »Beinahe hättest du mich erschreckt, Bahadur. Aber wie ich sehe, kannst du dich frei bewegen. Das ist gut, denn wenn man dich gefesselt oder gar angekettet hätte, wären wir beide in Schwierigkeiten gewesen.«
    Ein Lachen klang auf, nicht mehr als ein leiser Hauch. »Wir sollten nicht reden, sondern von hier verschwinden.«
    Sergej bewunderte das kalte Blut des jungen Burschen. Wenn Bahadur nicht durch irgendeinen dummen Zufall sein Leben verlor, konnte er einmal einer der großen Generäle des Zaren werden, vielleicht sogar sein Vorgesetzter. Dieser Gedanke behagte ihm nicht besonders, und er hatte Mühe, ihn aus seinem Kopf zu vertreiben. Er fasste den Jungen am Arm, zog ihn zur Zeltwand und versuchte tastend das Loch wieder zu finden, das er hineingeschnitten hatte. Zunächst schien es wie durch den Zauber einer bösen Hexe verschwunden zu sein, denn er hatte den im Schatten liegenden Teil mindestens schon dreimal abgefingert, als seine Hand endlich die Öffnung fand. Er schlüpfte hinaus, wartete, bis Bahadur ihm folgte, und versuchte, herauszufinden, in welcher Richtung Kitzaq auf sie wartete.
    Schirin war noch etwas schlaftrunken, fing sich aber, als sie den Ruf eines Vogels vernahm, den die Männer ihres Stammes meisterhaft nachzuahmen verstanden. Sogleich packte sie Sergej am Ärmel und zog ihn mit sich. Da sie an ein Leben in Jurtenlagern gewöhnt war, verstand sie es, in dem flackernden

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