Die Tatarin
klang verärgert, und Wanja nahm an, er wäre wütend, weil er sich von den Tataren überlistet glaubte. Sergej kämpfte jedoch mit Gefühlen, die ihn erschreckten. Er sehnte sich nach der Freundschaft des jungenTataren, nach einem freundlichen oder gar zärtlichen Wort und vielleicht sogar nach mehr. Ich hätte ebenfalls finnische Weiber vergewaltigen sollen, dann würde ich nicht nach einem Knabenhintern gieren!, schalt er sich in Gedanken und vergaß dabei ganz, dass ihm auch der Besuch in Madame Reveilles Salon in Sankt Petersburg nicht geholfen hatte.
Während Sergej sich mit Zweifeln quälte, erreichte Schirin die Stelle, an der der Späher die fremden Reiter ausgemacht hatte. Der Trupp hielt noch immer im spitzen Winkel auf die Schweden zu, war aber vorsichtig genug, selbst Späher auszusenden. Einer von ihnen entdeckte die beiden einsamen Reiter und preschte zu seiner Schar zurück. Schirin erkannte auf den ersten Blick, dass es sich bei ihnen um russische Dragoner handelte, und näherte sich ihnen offen. Einer der Offiziere starrte zu ihr herüber, rieb sich über die Augen und kam ihr dann im Galopp entgegen.
»Bahadur, bist du es wirklich?«, rief er schon von weitem. Kurz darauf zügelte er sein Pferd neben Goldfell und lächelte dessen Reiter fröhlich an.
»Stenka Rasin!« In ihrer Überraschung verwendete Schirin den Spitznamen, der Stepan Raskin von seinen Kameraden angehängt worden war.
Raskin ging großzügig darüber hinweg. »Derselbe und in eigener Person! Bei der Heiligen Jungfrau von Kasan, wie freue ich mich, dich wieder zu sehen! Sag, wie geht es dem alten Sergej Wassiljewitsch? Lebt er noch, oder hat ihn der Ärger über seine Steppenteufel bereits unter die Erde gebracht?«
Schirin hatte mittlerweile ihre Fassung wieder gefunden und musterte den Leutnant mit einem gewissen Spott. »Ich an deiner Stelle wäre vorsichtiger mit solchen Ausdrücken. Wie du dich erinnern kannst, gehöre auch ich zu diesen Steppenteufeln und könnte dir diese Bezeichnung übel nehmen.«
Raskin winkte lachend ab. »Du doch nicht, Bahadur! Du bist mittlerweile ein halber, wenn nicht gar ein ganzer Russe geworden.«
Kitzaq gluckste vor Vergnügen, während Schirins Gesicht erstarrte. Die muntere Bemerkung Raskins hatte sie daran erinnert, dass sie durch ihre Mutter tatsächlich eine halbe Russin war. In all den Jahren nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie diese Tatsache zu verdrängen versucht, doch Zeynas Bosheit und die der anderen Weiber hatte sie immer wieder daran erinnert. Hier in der Heimat ihrer Mutter hatte sie sich immer als ganze Tatarin gefühlt, und nun kam dieser Raskin und erinnerte sie wieder an ihre Herkunft.
»Ein halber Tatar ist immer noch besser als ein halber Russe«, antwortete sie, doch ihren Worten fehlte die Kraft.
Raskin ließ Schirin nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn er beugte sich aus dem Sattel und umarmte sie kurz, aber heftig. »So, wie du bist, bist du richtig, Söhnchen! Sag mal, wie habt ihr es nur geschafft, diese verdammten Schweden von Sankt Petersburg wegzulocken? Wir haben gehört, sie sollen vor Schlüsselburg aufgetaucht, aber sofort weitergezogen sein, ohne es richtig zu belagern.«
»Das solltest du dir von Hauptmann Tarlow berichten lassen.« Schirins Miene wurde abweisend, und sie wandte ihr Pferd, um zu Sergejs Trupp zurückzukehren.
»Halt!«, rief Raskin Bahadur nach. »Lass mich wenigstens noch meinen Leuten Bescheid sagen, sonst glauben sie noch, ihr beide würdet mich als Gefangenen mitschleppen.«
Diese Gefahr bestand allerdings nicht, denn die Dragoner waren nahe genug herangekommen, um Zeuge der fröhlichen Begrüßung geworden zu sein. Es waren etwa sechzig Reiter, die von Raskin und dem ihm unterstellten Leutnant Tirenko angeführt wurden. Seine Balalaika hatte Tirenko diesmal nicht dabei, dafür aber einen halbmondförmig gebogenen Säbel, den sein Vater, der unter Pjotr Alexejewitsch bei Asow gefochten hatte, als Beute mitgebracht hatte. Tirenko zählte ebenso wie sein Freund Raskin noch keine zwanzig Jahre, und in normalen Zeiten wäre keinem von ihnen das Kommando über diesen Beritt anvertraut worden. Schirin hatte jedoch schon mehrfach gehört, dass der Armee des Zaren erfahrene Offiziere fehlten. Pjotr Alexejewitschhatte zwar versucht, diesen Mangel durch die Anwerbung von Ausländern auszugleichen, doch angesichts der schmählichen Niederlage an der Narwa vor mittlerweile acht Jahren hatten sich die wirklich erfahrenden
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