Die Tatarin
verlasse, doch ich muss mich durch diese Depeschen hindurcharbeiten. Noch sind die Schweden nicht da, also könnt ihr ruhig weiterfeiern. Sollten euch die schlechten Nachrichten den Spaß verdorben haben, dann sauft meinetwegen, bis euch die Köpfe auf den Tisch fallen. Das ist besser, als jetzt schon vor Angst umzukommen, weil der zwölfte Carl seine Nase unbedingt nach Moskau hineinstecken will.«
Das Lachen, das Apraxin antwortete, war kläglich, und die meisten seiner Gäste griffen so hastig nach den Flaschen, die die Diener verteilten, als müssten sie so viel Wodka in sich hineinschütten, wie ihr Magen fassen konnte. Schirin wollte sich zurückziehen, denn sie ekelte sich jetzt schon vor dem, was nun kommen würde, aber Sergejs bittender Blick ließ sie bleiben. Er schenkte sich sein Glas voll, hielt es aber in der Hand und starrte darüber hinweg ins Leere.
»Du glaubst, die Schweden zu kennen, Bahadur, aber du hast sie noch nicht richtig erlebt, jedenfalls nicht so wie ich. Wir waren eine große Armee voller Zuversicht und Siegesgewissheit, als wir damals in der Nähe der Stadt Narwa lagerten, nicht weit von dem Fluss, der den gleichen Namen trägt. Während eines mörderischen Schneesturms tauchten die Schweden mitten unter uns auf und überraschten unsvöllig unvorbereitet. Sie stürmten mit gefällten Piken und Bajonetten beinahe aus dem Nichts gegen uns an, und unser Heer verwandelte sich in einen verschreckten Hühnerhaufen, in den ein Vielfraß eingefallen ist. Mut, Kameradschaft und Vaterlandsliebe galten keine verschimmelte Kopeke mehr! Von einigen wenigen Regimentern abgesehen, die ein paar todesmutigen Offizieren blindlings folgten und ohne Flankendeckung in ihr Verderben liefen, versuchte jeder sich selbst zu retten. Erwachsene Männer stolperten wie greinende, kopflos herumlaufende Kinder den Schweden vor die Klingen und ließen sich ohne Gegenwehr abstechen. In meinen Träumen sehe ich das alles immer wieder vor mir. Glaube mir, die Hölle kann nicht so grausam sein wie das, was ich damals erlebt habe.«
Die atemlos hervorgestoßene Rede war der Beginn eines langen, nicht gerade zusammenhängenden Berichts, den Sergej seinem Fähnrich aufdrängte. Während er sein Glas austrank, mit einer Hand nachschenkte und wieder trank, packte er mit der anderen Hand Bahadurs rechtes Handgelenk und hielt es fest, als hätte er Angst, der Junge würde ihn sonst allein lassen.
Schirin spürte, dass Sergej jemand brauchte, dem er seine Ängste und Zweifel offenbaren konnte, hätte sich jedoch gewünscht, er würde dabei nicht so unvernünftig viel trinken. Seine Stimme wurde bald undeutlich, und er begann, albern vor sich hin zu kichern, obwohl er über schreckliche, manchmal geradezu abstoßende Szenen aus jener Schlacht sprach, die eigentlich ein Überfall mit einem darauf folgenden Gemetzel gewesen sein musste.
Während Sergej sich immer öfter wiederholte und schließlich kaum noch zu wissen schien, was er eben noch gesagt hatte, sanken die Leute um sie herum in sich zusammen, legten den Oberkörper auf den Tisch oder rutschten auf die Erde und begannen zu schnarchen. Raskin glaubte wohl, sich in seinem Schlafzimmer zu befinden, denn er stritt sich mit einem Diener, der ihn davon abhalten wollte, die Damasttischdecke samt Gläsern und Flaschen herunterzuziehen und als Bettdecke zu benutzen.
Ein Knarren an der Tür ließ Schirin aufblicken, und sie sah Apraxin zurückkommen. Der Fürst blickte mit verkniffener Miene auf die Betrunkenen und schien ganz vergessen zu haben, dass er selbst seinen Gästen den Rat gegeben hatte, ihre Sorgen und Ängste in Wodka zu ersäufen, denn er fluchte bei ihrem Anblick. Auf seinen Befehl hin brachten die Lakaien Eimer mit kaltem Wasser und gossen sie über den schlafenden Zechern aus. Bei einigen half auch das nichts mehr, aber die meisten fuhren auf, schimpften wie Marktweiber und drohten den Dienern Schläge an.
»Ruhe!« Apraxins Stimme hallte von den Saalwänden zurück. »Ich gebe euch jetzt eure Befehle und lasse euch die Haut in Streifen vom Leib schneiden, wenn ihr nicht Haltung annehmt!« Er ließ seinen Blick durch den Saal wandern, um festzustellen, wer noch in der Lage war, ihm zuzuhören. »Die Nachricht von der Niederlage bei Holovczyn ist wahr. Jedoch ist es den Generälen Seiner Majestät, des Zaren, tatsächlich gelungen, ihre Truppen geordnet vom Feind zu lösen und sich zurückzuziehen. Pjotr Alexejewitsch will den Schweden unter allen Umständen
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