Die Tatarin
August schlenderten Schirin und Ilgur durch die Zeltreihen des Lagerteils, in dem sie frei herumlaufen durften. Ilgur trug eine Schnapsflasche in der Hand und genehmigte sich von Zeit zu Zeit einen kräftigen Schluck. Dabei wurden seine Gesten immer lebhafter, und er verstieg sich zu wüsten Drohungen gegen seinen Vater und seine Brüder, die er mit schwedischer Hilfe niederwerfen wollte, um sich dann selbst zum Khan von ganz Sibirien zu machen.
Schirin hatte diese Worte schon so oft gehört, dass sie sich an einen bunten Vogel erinnert fühlte, den sie in Apraxins Palais in Sankt Petersburg gesehen hatte. Soviel sie wusste, nannte man das Tier Plappergei, da er alle Sätze, die man ihm beibrachte, ständig nachplapperte. Das erste Mal, als sie ihn gehört hatte, war sie erschrocken zusammengefahren, weil eine menschliche Stimme neben ihr scheinbar aus dem Nichts aufgeklungen war.
Während ihre Gedanken in eine Zeit zurückwanderten, in der Sergej ihr Freund gewesen war, plante Ilgur um und erklärte, dass er Ajsary und seine Familie dort lassen würde, wo sie waren, um selbst den Thron von Kasan zu besteigen. »Dann ernenne ich dich zu meinem Großwesir, Bahadur!«, versprach er großspurig.
Schirin nickte scheinbar interessiert, obwohl sie ihm am liebsten ins Gesicht gelacht hätte, denn am Vortag hatte er ihr noch versprochen,sich bei Carl XII. dafür einzusetzen, Bahadur zum Khan von Astrachan zu ernennen.
Kaum hatte sie an den schwedischen Herrscher gedacht, hörte sie dessen Stimme ganz in der Nähe aufklingen. »Ich kann nicht noch länger auf Lewenhaupt warten, Piper! Er hätte letzte Woche hier sein müssen, doch seine Truppe scheint sich in ein Heer von Schnecken verwandelt zu haben.«
Neugierig geworden sah Schirin sich um und entdeckte den König mit mehreren seiner Generäle keine zehn Schritt von sich entfernt neben seinem Zelt stehen. Anscheinend waren Ilgur und sie ins Zentrum des Lagers gewandert, ohne von einem Posten entdeckt und aufgehalten worden zu sein. In seine Schnapsträume versunken beachtete Ilgur die Männer nicht, sondern plapperte mit schwerer Zunge weiter, während Schirin ihre Ohren spitzte, damit ihr kein Wort der Unterhaltung entging. Jede Veränderung konnte ihr die Chance zur Flucht geben, und sie wollte wissen, auf was sie gefasst sein musste.
Piper hob fast flehend die Hände. »Euer Majestät, ich bitte Euch, diesen Entschluss noch einmal zu überdenken! Wenn wir weitermarschieren, liegt der Dnjepr in seiner ganzen Breite zwischen uns und Lewenhaupts Armee. Wenn er dann in Schwierigkeiten kommen sollte, können wir ihn nicht mehr unterstützen.«
Carl XII. lachte höhnisch auf. »Wer sollte ihn denn in Schwierigkeiten bringen? Diese Russen etwa, die bereits rennen, wenn sie die schwedischen Farben am Horizont auftauchen sehen? Unsinn! Aber wenn Ihr Bedenken habt, ist es sogar besser, wenn wir weitermarschieren, denn dann halten wir Lewenhaupt das ganze Gesindel vom Hals. Dieser Pitter, der sich noch ein paar Wochen Zar nennen darf, wird uns folgen, denn wir stellen die wahre Gefahr für ihn dar! Er kann es nicht wagen, den Lotterhaufen, den er Heer nennt, zu teilen, und daher wird er Lewenhaupt keinen einzigen seiner Muschiks in den Weg stellen.«
General Rehnskjöld raufte sich zweifelnd seinen Bart. »Ich fürchte,Ihr unterschätzt die Russen, Euer Majestät. Zu was sie fähig sind, bekommen wir ja jeden Tag zu sehen.«
Der König antwortete mit einem bösen Lachen. »Sie tun nichts anderes, als ihre eigenen Dörfer niederzubrennen, in der Hoffnung, uns damit aufhalten zu können. Nein, meine Herren, damit machen die Russen mich nicht bange. Ganz im Gegenteil! Auf diese Weise zeigen sie mir, dass sie verzweifelt und am Ende sind. Wir brauchen nur noch eine einzige, größere Schlacht zu schlagen, und Russland fällt uns wie ein reifer Apfel in den Schoß, und zu dieser Schlacht werde ich sie bald zwingen. Mein Entschluss steht fest: Wir brechen morgen auf. Lewenhaupt wird uns folgen und sich weiter im Osten mit uns vereinigen.«
Schirin ahnte, dass Piper und Rehnskjöld gerne weitere Einwände vorgebracht hätten, sich aber nicht trauten, ihrem König zu widersprechen, und als Carl XII. sie mit einer ungeduldigen Handbewegung fortscheuchte, salutierten die Offiziere, als wären sie blutjunge Leutnants und keine in vielen Schlachten erprobten Feldherren, und hasteten davon.
Carl XII. blickte ihnen einen Augenblick nach und wandte sich dann ab. »Männer, es geht
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